Blinde Wahrheit
hinteren Teil seines Grundstücks gerast, nun jedoch erstmals so nah an seinem Haus vorbeigefahren, dass sie sogar Schaden dabei angerichtet hatten.
Verdammt, verdammt, verdammt!
Im diffusen Licht der Dämmerung kniff er die Augen zusammen und starrte auf die Beete, die so aufopferungsvoll von seiner Großmutter gepflegt worden waren. Blütenblätter in allen Regenbogenfarben lagen auf dem Boden verstreut, platt gefahren und mit Erde beschmutzt.
Merkwürdigerweise faszinierte Ezra der Anblick dieser verknickten, verwüsteten Blumen auf eine gewisse Art.
Ihr Name war Jolene Hollister.
Sie war neunundzwanzig Jahre alt und verlobt.
Noch vor einer Woche hatte ihr die ganze Welt zu Füßen gelegen, und sie hatte das Leben in vollen Zügen genossen.
Doch nun befand sie sich in der tiefsten Hölle, und allmählich sehnte sie sich nach dem Tod.
Etwas in ihr flüsterte, dass sie sich eigentlich dafür schämen sollte, aber sie tat es nicht. Sie wusste, normalerweise müsste sie um ihr Leben kämpfen, das Leben, das sie mit ihrem Verlobten hätte teilen wollen. Doch sie hatte solche Schmerzen, und sie war so unendlich müde …
Im Tod könnte sie endlich Zuflucht finden – vor ihm.
Doch auch wenn sie ihr Ableben herbeisehnte – als Jolene merkte, dass ihre Fesseln sich gelockert hatten, zerrte sie noch weiter daran. Sie schaffte es tatsächlich, sich zu befreien, hockte sich in eine Ecke, griff nach einer Metallstange und hielt sich versteckt. An der Stange waren Lederhandschellen befestigt. Schnell versuchte sie die Erinnerung an das, was er ihr damit angetan hatte, zu verdrängen.
In diesem Moment war alles egal. Es wurde bedeutungslos, dass ihr Blut daran klebte. Nun würde diese Stange eine Waffe in ihren Händen sein, und sie würde sie gegen ihn verwenden.
Wenn sie bloß nicht so geschwächt wäre.
Als er schließlich hereinkam, schlug sie ihm die Stange gegen den Schädel. Sie traf, er fiel hin, doch sie wusste, dass sie ihn nicht kräftig genug erwischt hatte.
Trotzdem rannte sie los.
Sie würde ihm entkommen oder bei dem Versuch sterben.
Zumindest blieb ihr die Hoffnung …
Das war ihr einziger Gedanke gewesen, doch nun musste sie diese Hoffnung aufgeben. Sie hetzte durch den Wald, bemühte sich, ihm zu entkommen. Doch sie würde es nicht schaffen, u nd sein h öhnisches Gelächter trieb sie schier zur Verzweiflung.
Er lachte. Das Schwein lachte sie aus.
Lachte sie aus, während sie rannte.
Er lacht.
Tief in ihrem Inneren wurde sie stocksauer.
Das kranke, perverse Arschloch lachte.
Sie wollte, dass ihre Wut die Oberhand gewann, hatte jedoch viel zu viel Angst. Er war ihr auf den Fersen. Sie musste weiterrennen. Sie musste fliehen, musste Hilfe holen, bevor er sie einholte.
Er wird dich kriegen … Du kannst ihm nicht entkommen. Die düstere, anhaltende Verzweiflung drohte sie zu übermannen. Sie versuchte, sie zu verdrängen. Sie konnte entkommen – schließlich hatte sie es bis nach draußen geschafft, oder? Sie konnte es also schaffen.
Ein Schluchzer stieg in ihr auf, schien ihr jedoch im Hals stecken zu bleiben und sämtliche Luft zum Atmen zu nehmen. Sie hörte ihn direkt hinter sich, vernahm sein Kichern, während sie weiterhastete.
Sie bildete sich sogar ein, neben ihren eigenen stoßweise gehenden Atemzügen seine Schritte auf dem festgetretenen, unebenen Waldboden hören zu können.
Vielleicht war es aber auch nur ihr Herz, das in ihrer Brust hämmerte.
Sie litt Höllenqualen. Mit solch einem Martyrium hatte sie nicht gerechnet – jeder Atemzug, jede Bewegung waren die reinste Tortur für sie. Sie wollte sich einfach nur noch irgendwo hinkauern und weinen, aber das durfte sie nicht – sie durfte nicht aufhören zu rennen, durfte nicht stehen bleiben.
Vor ihr brannten Lichter. Zwischen den Bäumen konnte sie einen schwachen goldenen Schimmer ausmachen.
Lichter! Sie kamen vielleicht von einem Haus. Bedeuteten womöglich, dass Hilfe nahe war, dass sie dort in Sicherheit wäre …
Mit weit aufgerissenen Augen warf Jolene einen Blick über die Schulter und sprintete nach links, um nur ja den Abstand zwischen sich und ihrem Verfolger zu vergrößern. Um nur ja schnell zu diesen goldenen Lichtern zu kommen.
Wahrscheinlich würde sie in dieser Nacht sterben, aber das hieß nicht, dass sie aufgeben würde. Nicht ohne zu kämpfen.
Ihr Name war Jolene Hollister.
Unbekümmert lief der Mann hinter ihr her, wie ein dunkles, schattenhaftes Wesen, das sich mühelos durch das Gehölz
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