Blinde Wahrheit
gehörst mir, Hope. Was einmal mein ist, gebe ich nicht wieder her …
Kaum etwas hasste Remy so dermaßen, wie an einem Sonntag zu arbeiten. Aber manchmal musste ein Mann eben Dinge tun, die ihm nicht in den Kram passten. Und da er es lieber so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte, war er in den frühen Gottesdienst der Methodistengemeinde Ash gegangen, dann ins Büro gefahren, hatte seine Angelegenheit erledigt und schließlich noch im Büro des Sheriffs vorbeigeschaut.
Der Gottesdienst war, ebenso wie die Arbeit und der Abstecher zum Büro des Sheriffs, eine Pflichtübung. Ginge er nicht hin, würde seine Mutter es irgendwann bemerken und er würde ihre Fragen beantworten müssen. Und niemand konnte einem Mann so starke Schuldgefühle einflößen wie die eigene Mutter.
Außerdem hatte es etwas … Wohltuendes an sich.
Auch wenn er nicht so genau wusste, ob er überhaupt an eine höhere Macht glaubte. An Gerechtigkeit und an das Gesetz, ja, aber darüber hinaus? Er konnte es nicht sagen.
Aber es herrschte so eine friedvolle Atmosphäre, und Remy fand nicht an vielen Orten Frieden.
Und eben weil der Gottesdienst so harmonisch verlief, nur ungefähr eine Dreiviertelstunde dauerte und es zudem seine Mutter glücklich machte, ging er zur Kirche, und zwar gern.
Zudem brauchte er diesen inneren Frieden, wenn er seinen Aufgaben nachging.
Besonders an diesem Tag.
Es gab sogar Zeiten, da wünschte er sich, er wäre kein Anwalt geworden.
Da wollte er seine Fäuste benutzen, nicht seinen Verstand.
Dieser Tag war so einer.
Moira Hamilton lag wieder im Krankenhaus, diesmal mit einem gebrochenen Kiefer und einem lädierten Arm.
Ihr verfluchter Ehemann hatte sie mal wieder zusammengeschlagen.
Die Kinder waren mittlerweile aus dem Haus, und wenn Remy und das Sozialamt sich durchsetzen konnten, dann würden sie auch nicht mehr in die Familie zurückkommen. Die Zwölfjährige, das arme Kind, hatte alles mitansehen müssen, und Remy war sich sicher, dass das Mädchen diese Nacht wohl noch jahrelang in ihren Träumen erneut durchleben würde.
Vielleicht sogar für den Rest seines Lebens.
Bisher hatte Pete Hamilton seine Frau immer dann verdroschen, wenn die Kinder entweder im Bett, nicht zu Hause oder in einem anderen Zimmer gewesen waren. Aber dieses Mal hatte Bethany alles mitbekommen, mit dem Telefon in der Hand auf dem Treppenabsatz gekauert und die Polizei gerufen.
Armes Mädchen.
Aber mutig.
Und klug.
Sie hatte gesehen, was ihre Mutter nicht sehen konnte. Oder wollte.
Die Mutter war weder für sich noch für ihre Kinder eingestanden, und deshalb hatte das Mädchen die Angelegenheit nun selbst in die Hand genommen.
Remy war die gesamte vergangene Stunde damit beschäftigt gewesen, im Büro des Sheriffs den Bericht durchzugehen. Da das große alte Haus der Hamiltons außerhalb der Stadtgrenzen lag, fiel der Notruf in den Zuständigkeitsbereich des Sheriffs – und anscheinend war in der vergangenen Nacht noch ein weiterer Anruf eingegangen.
Ash konnte man an sich als ein ruhiges Städtchen bezeichnen. Es gab zwar immer wieder einmal verrückte Abende, aber es war nicht ungewöhnlich, wenn ein, zwei Nächte oder auch ein ganzes Wochenende vergingen, ohne dass groß etwas passierte.
Dieses Wochenende war jedoch anders gewesen.
Völlig anders.
Petes brutaler Übergriff auf seine stille, zurückhaltende Frau, vor den Augen ihrer Kinder.
Dann dieser äußerst seltsame Anruf von Lena Riddle.
Höchst seltsam, nach dem zu urteilen, was Remy aufgeschnappt hatte.
Lena … Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Schon allein der Gedanke an sie ließ ihn ganz nostalgisch werden, und Begierde flammte in ihm auf. Seit die Beziehung mit ihr gescheitert war, hatte er keine andere Frau mehr gehabt, und er vermisste sie – vor allem den Sex, aber auch sie selbst. Er vermisste ihre unkomplizierte, humorvolle Art, ihr sexy Lachen und ihr wunderschönes Lächeln.
Wenn er nicht so verflucht müde gewesen wäre, hätte er vielleicht die Gunst der Stunde genutzt und wäre zu ihr hinübergegangen, als er sie mit Prather hatte sprechen sehen.
Aber die Erschöpfung war zu groß und Prather zu nervig gewesen, abgesehen davon, dass er noch ein paar Dinge für den Hamilton-Fall zu erledigen gehabt hatte.
Und als er endlich damit fertig gewesen war, hatte er Lena nirgends mehr sehen können. Wahrscheinlich war es ohnehin das Beste, wenn er sich aus der Angelegenheit raushielt.
Eigentlich hatte sie auch bloß
Weitere Kostenlose Bücher