Blinde Wahrheit
ihnen eingesperrt gewesen.
Plötzlich ließ eine Hupe sie aufschrecken. Hope bemerkte, dass sie für eine ganze Weile einfach nur dagesessen und ins Nichts gestarrt hatte. Sie winkte dem Fahrer hinter sich entschuldigend zu, fuhr los und fand schließlich eine Parklücke neben dem Bezirksrathaus. Obwohl es Sonntag war, gab es kaum freie Stellplätze, und überall wimmelte es nur so von Menschen.
Die Stadt mochte vielleicht klein sein, wirkte dafür aber umso belebter.
Und schien sehr neugierige Einwohner zu haben.
Sie spürte, wie sie angestarrt wurde, und rang mit sich, ob sie nicht einfach umdrehen und wieder aus der Stadt fahren sollte.
Sie könnte Law anrufen und ihm sagen, dass sie es sich anders überlegt habe.
Obwohl er sie erwartete, wie sie wusste. Auch wenn er nicht zu Hause gewesen war, als sie kurze Zeit vorher vor seinem Haus geparkt hatte. Doch sie war nicht imstande gewesen, sich in seine Wohnung zu setzen und auf ihn zu warten.
Einfach nur dasitzen und abwarten gehörte nicht gerade zu Hopes Stärken.
Das hatte sie bereits viel zu lange in ihrem Leben getan.
Bloß nicht drüber nachdenken , beruhigte sie sich. Sie konnte einfach nicht an die Vergangenheit denken und gleichzeitig eine rationale Entscheidung treffen. Doch genau das musste sie in diesem Moment tun. Rational, nicht emotional sein.
Sie holte tief Luft, löste die verkrampften Hände vom Lenkrad und zwang sich, aus dem Auto zu steigen. Sie würde einfach ein wenig umherspazieren. Der Anzahl an kleinen Geschäften und Restaurants im Umkreis nach zu urteilen, wuselte an den Wochenenden wahrscheinlich immer eine größere Menge Touristen aus Lexington oder Louisville durch die Stadt. Hope und Law waren in einer Ortschaft aufgewachsen, die sich gar nicht so sehr von dieser unterschied. Wenn sie einfach nur umherspazierte, würde sie also gar nicht auffallen. Wenn sie dagegen wie eine Verrückte in ihrem Auto hocken bliebe, würden die Leute sie anstarren und auf sie aufmerksam werden.
Und sie mochte es nicht, wenn die Leute auf sie aufmerksam wurden …
Hör auf damit!
Sie merkte, dass ihre Hände schweißnass waren. Also wischte sie sie an ihrer Jeans ab, verstaute den Autoschlüssel in der Hosentasche und schaute nach, ob sie das Bargeld, die Kreditkarte für Notfälle und ihren Ausweis dabeihatte. Mehr nahm sie nie mit.
Ihr ganzer Besitz lag in diesem Auto.
Die restlichen Sachen hatte sie in einer anderen Kleinstadt gelassen: ein wunderschönes Haus, einen Schrank voller hübscher Anziehsachen und ein Leben, das eine Lüge gewesen war.
Es hieß immer, der erste Schritt sei der schwerste, doch das stimmte nicht.
Sie war diesen ersten Schritt vor über zwei Jahren gegangen, als sie endlich beschlossen hatte, dass sie das damalige Leben nicht mehr führen konnte. Und nun lief sie immer noch fort, ließ immer mehr Abstand, immer mehr Zeit zwischen sich und diesem Leben – und ihm – kommen, und dennoch war es schwer geblieben.
Wegen all der Erinnerungen …
Aufgrund von verschlossenen Türen und weiß gestrichenen Räumen und einem Flüstern …
Sie stieg aus dem Auto und ging auf den Bürgersteig zu. Aus irgendeinem Grund fühlte es sich so an, als würde sie eine Rettungsleine kappen.
So schwer war es ihr noch nie zuvor gefallen.
Wirklich, noch nie.
Dabei hatte sie sonst keinerlei Skrupel, diesen kleinen, verbeulten Schrotthaufen hinter sich zu lassen, wenn sie für eine Nacht in irgendeiner Absteige unterkam oder wenn sie einer Arbeit nachging, Tische abräumte, Häuser putzte oder was immer sie auch für Gelegenheitsjobs fand, um schnell an Geld zu kommen. Manchmal hasste sie dieses Auto sogar regelrecht.
Und gerade weil es ihr in diesem Moment so schwerfiel, die Blechkiste stehen zu lassen, zwang sie sich erst recht dazu. In Gedanken versunken und ziellos schlenderte sie den Bürgersteig entlang, starrte abwesend in Schaufensterscheiben und widerstand dem Drang, zum Auto zurückzukehren – zurückzurennen, sich hinters Lenkrad zu werfen und wegzufahren.
Um diese kleine Stadt hinter sich zu lassen.
Aber warum? Lag es daran, dass sie so sehr derjenigen ähnelte, in der sie festgesessen hatte?
Oder lag es daran, dass Law sie mit aller Entschlossenheit am Wegrennen hindern wollte?
Logisch betrachtet hatte sie keinerlei Veranlassung, auch weiterhin zu flüchten. Es gab keine rechtlichen Gründe, und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, auch keine persönlichen.
Glaubst du wirklich, ich lasse dich gehen? Du
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