Blinde Wahrheit
nicht.
Und er war in dieser Stadt geboren worden – Schlag Mitternacht zu Neujahr. Hier hatte er die Schule besucht, bis er aufs College gegangen war, und nach seinem Jurastudium hatte es ihn wieder nach Hause gezogen. Er kannte in diesem Ort also wirklich jeden.
Aber sie hatte er hier noch nie zuvor gesehen.
Sie starrte ins Schaufenster von Shoffner’s , aber irgendetwas an ihrer Haltung verriet ihm, dass sie nicht über ihre nächste Lektüre nachdachte oder einen innerlich aufkeimenden Kaufrausch niederzuringen versuchte.
Sie sah aus, als wäre sie in einer anderen Welt versunken.
Nein.
Als wäre sie gefangen.
Gefangen … und schrecklich allein.
Plötzlich rempelte jemand sie an, und sie schreckte zusammen.
Selbst aus fünf Metern Entfernung konnte Remy sehen, wie sie blass wurde, wie sie zurückwich und sich gegen das Schaufenster drückte.
Hinter ihr stand ein Pflanzkübel, den sie offensichtlich nicht gesehen hatte; sie stieß dagegen und warf ihn um.
Prather war dichter dran am Geschehen als Remy, und auf einmal beschlich ihn eine böse Vorahnung.
Hope sah nur die Uniform.
Als er sie auch noch anfasste, drehte sie durch.
Sie wich vor ihm zurück und schlug nach den Händen, die sie festhalten wollten, zwang sich, nicht zu schreien, nicht zu weinen.
Nein, nein, nein …
»Miss, beruhigen Sie sich … « Große, starke Hände mit dicken, kräftigen Fingern umfassten ihre Handgelenke, sie bekam Atemnot, es schien, als würde sich ihr die Kehle zuschnüren. Schwarze Punkte erschienen vor ihren Augen, sie kämpfte gegen die Panikattacke an, versuchte sich zu beruhigen …
Ich darf nicht in Ohnmacht fallen, ich darf einfach nicht …
Das Bewusstsein zu verlieren, war immer schlecht. Wenn sie umkippte, wachte sie danach meistens im … Nein, nein, nein …
Sie merkte gar nicht, dass sie leise vor sich hin stöhnte, und nahm auch Prather, der ihre Handgelenke umklammert hielt, nicht wahr, sondern versuchte nur, sich loszureißen und zu entkommen.
Unerwartet kam sie frei, lehnte sich mit dem Rücken gegen das kühle, glatte Schaufenster. Sie konnte das Blut in ihren Ohren rauschen hören und zitterte wie Espenlaub.
Aber sie war frei.
Und stand im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit. Der Deputy starrte sie an, ebenso stierten einige weitere Passanten zu ihnen herüber. In der Bemühung sich zu sammeln und wieder zu beruhigen, vergrub sie das Gesicht in den Händen.
»Verflucht, Jennings, was zum Teufel wollen Sie denn?«, fuhr der Deputy jemanden an.
»Sie Idiot, sind Sie blind? Sehen Sie nicht, dass sie völlig verängstigt ist?«
Der Tonfall des Mannes klang leise und beherrscht, sodass seine Worte trotz ihrer großen Furcht auch zu Hope durchdrangen. Sie ließ die Hände ein wenig sinken und riskierte einen Blick aus den Augenwinkeln. Wer auch immer gerade sprach, schaute nicht zu ihr, sondern blickte wütend zu Prather.
Das verschaffte ihr ein wenig Zeit, um durchzuatmen.
»Sie ist über eine blöde Pflanze gestolpert. Da muss man nicht gleich so durchdrehen.«
»Sie sind wirklich stumpf.« Der blonde Mann strafte den Deputy mit einem vernichtenden Blick, bevor er sich Hope zuwandte. Sie konnte nicht sagen, warum, aber die Art, wie er sie ansah, ging ihr durch und durch. »Alles in Ordnung, Ma’am?«
Hope versuchte, den Kloß in ihrer Kehle hinunterzuschlucken. Oh Gott … Kann ich überhaupt sprechen? »Mir … ähm, mir geht’s gut.« Sie räusperte sich und sah zu dem Polizisten hinüber, den sie angerempelt hatte.
Sie war zwar lediglich mit ihm zusammengestoßen und hatte etwas umgeworfen, aber der Anblick seiner Uniform machte ihr Angst. Sie fühlte sich wie eine Idiotin – eine Vollidiotin – , und schlimmer noch, sie fürchtete sich selbst jetzt noch, zitterte noch immer am ganzen Körper.
Das war nicht gut. Sie durfte ihnen unter gar keinen Umständen ihre Angst zeigen. Hope schluckte schwer und bemüh te sich, den verschreckten Gesichtsausdruck abzulegen, aber sie wusste, dass es ihr nicht gelingen würde. Genauso gut hätte man das Meer beruhigen wollen können … Ein Ding der Unmöglichkeit.
Es wurde auch nicht besser, als der Deputy ihr mit zusammengekniffenen Augen direkt ins Gesicht sah.
»Das ist doch kein Grund, Angst zu haben.« Misstrauisch musterte er sie. »Außer natürlich, sie hat einen Grund.«
Hope hatte verdammt viele Gründe, vor Leuten in Uniform Angst zu haben. Sie wusste, was für kranke Typen sich manchmal hinter ihrer Dienstkleidung
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