Blinde Wahrheit
eine – zugegebenermaßen reichlich ungewöhnliche – Wahrnehmung gemeldet. So ungewöhnlich, dass Remy froh war, dass Lena einen großen Hund besaß. Und er hatte ohnehin bereits alle Hände voll zu tun. Außerdem gestaltete es sich etwas schwierig zwischen ihnen, auch wenn sie nicht im Bösen auseinandergegangen waren.
Remy hatte … mehr gewollt, wusste jedoch auch nicht genau, was.
Lena hingegen war mit dem, was sie hatten, zufrieden gewesen. Alles war jedoch anders geworden, als er sie bedrängt hatte, was, wie er sich mittlerweile eingestehen konnte, nicht sehr geschickt gewesen war. Die zwanglose Freundschaft, die sie früher miteinander verbunden hatte, war zerbrochen.
Wenn er sich nun in ihre Angelegenheiten einmischte, würde das ihr Verhältnis wahrscheinlich nur noch mehr belasten, und schon auf den ersten Blick hatte er erkannt, dass sie bereits gestresst genug war. Vermutlich bräuchte sie eine Schulter zum Anlehnen, aber die Aufgabe konnte auch Law übernehmen.
Der war Remy auf dem Weg zur Polizeiwache ins Auge gefallen. Er hatte in der Lobby gestanden und gewartet, mit seinem Smartphone herumgespielt und dem Anschein nach nichts von seiner Umwelt mitbekommen. Doch Remy wusste es besser. Er war nicht überrascht gewesen, als er Lena gesehen hatte – wenn es einen Menschen gab, der Law in ein geduldiges Lamm verwandeln konnte, dann war sie es.
Eigenartig, dass sie selbst das nie begriffen hatte. Sie war in vielen Bereichen so feinfühlig, aber in Bezug auf Law schien sie begriffsstutzig zu sein. Dabei lag es auf der Hand – im Lexikon fand man Laws Foto höchstwahrscheinlich direkt unter dem Eintrag hoffnungslos verliebt . Aber Lena hatte ganz offensichtlich nicht den leisesten Schimmer einer Ahnung.
Remy beendete seine Arbeit in Rekordzeit und verließ das kleine städtische Gebäude, in dem auch die winzige Polizeibehörde von Ash und das Büro des Bezirkssheriffs ihren Sitz hatten. Draußen brannte die Sonne erbarmungslos vom Himmel. Die Hitze traf ihn wie ein Fausthieb. Er streifte die leichte Windjacke ab, warf sie sich über die Schulter und machte sich auf den Weg zu seinem Auto.
Er hatte große Lust, den Rest des Nachmittages in der Hängematte auf dem Balkon zu verbringen und zu schlafen. Die nächsten paar Tage würden furchtbar anstrengend werden. Selbst wenn Moira Hamilton nicht aussagen wollte, musste er ihr Schwein von Ehemann hinter Gitter bringen. Zu Beginn der kommenden Woche würde es also richtig rundgehen.
Vielleicht war es also wirklich keine so schlechte Idee, den Rest des Tages in der Hängematte zu verbringen – so schnell würde er wahrscheinlich keine Gelegenheit mehr dazu bekommen. Denn eines wusste er über seine Stadt: Wenn irgendetwas Seltsames passierte, folgte kurz darauf das nächste merkwürdige Ereignis und dann das übernächste.
Hamiltons Verhaftung würde wahrscheinlich eine wahre Flut auslösen.
Tja, er sollte wohl wirklich den Tag genießen, solange er es noch konnte … Vielleicht könnte er sich bei Shoffner’s noch ein Buch besorgen, damit er nachmittags den Kopf freibekam. Das war mit Sicherheit genau das Richtige.
Entschlossen bog er Richtung Osten ab, statt zu seinem Auto auf dem Parkplatz um die Ecke zu laufen. Als er eine ihm vertraute Gestalt bemerkte, hätte er es sich beinahe anders überlegt …
Prather.
Remy verzog den Mund.
Mann, er konnte den Wichser einfach nicht ausstehen.
Prather schien einen in jene Zeiten zurückzuversetzen, als das kleinbürgerliche Amerika nur von den Seilschaften der Altherrenriege zusammengehalten wurde. Jeder, der nicht weiß und männlich war und der gesellschaftlichen Vorstellung von normal entsprach, wurde in die Schublade mit dem Etikett minderwertig gesteckt.
Prather war herablassend, ein Trottel, unachtsam, und nur allzu oft ging er dem Sheriff, Remy, drei Vierteln der Belegschaft im Stadtrat und so ziemlich allen, die mit ihm zu tun hatten, auf die Nerven.
Da er aber nur wenige Jahre vor der Pensionierung stand und sich leider nie etwas zuschulden hatte kommen lassen, hätte eine Kündigung nicht gerechtfertigt werden können. Also mussten sie es einfach auch weiterhin mit ihm aushalten.
Remy wäre fast schon wieder Richtung Auto marschiert, wenn er in diesem Moment nicht eine weitere Person bemerkt hätte, die ihn dermaßen faszinierte, dass er einfach nicht weggucken konnte.
Wind kam auf, und die schmale, fast verloren wirkende Gestalt wurde von ihrem dunklen Haar umweht.
Remy kannte sie
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