Blinde Wahrheit
versteckten. Und sie würde sich auf keinen Fall von diesem Mann als Kriminelle abstempeln lassen. In der Hoffnung, dass ihre Stimme nicht zitterte, antwortete sie steif: »Sie haben mich erschreckt.« Dann ließ sie ihren Blick über seine Dienstmarke und seine Uniform gleiten. Er gehörte zum Bezirk. »Es tut mir leid, Deputy, aber Sie haben mich erschreckt. Ich mag es nicht, wenn man mich anfasst, damit haben sie mir einen gewaltigen Schock verpasst. Ich habe einfach überreagiert.«
Der andere Mann stand etwas abseits und verfolgte ihr Gespräch und wurde vom Deputy mit einem äußerst abschätzigen Blick bedacht, zumindest wenn Hope das richtig interpretierte. Allerdings war es mit dem Vertrauen in ihre Menschenkenntnis derzeit nicht besonders weit her, vom Vertrauen in sich selbst gar nicht erst zu sprechen.
Sie hatte den wichtigsten Menschen in ihrem Leben jahrelang falsch eingeschätzt, und diese Fehleinschätzung hätte fataler nicht sein können …
Der Deputy richtete sein Augenmerk wieder auf sie, nickte knapp und deutete auf den zerbrochenen Kübel zu ihren Füßen. »Tja, Ma’am, tut mir leid, wenn ich Ihnen Angst eingejagt habe, ich habe nur versucht zu helfen. Aber Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie den Schaden ersetzen müssen.«
»Ach, seien Sie nicht albern.«
Als eine neue Stimme erklang, zuckte Hope innerlich zusammen. Aus den Augenwinkeln heraus konnte sie eine Frau erkennen – zierlich, mit ziegelroten Haaren, leuchtend blauen Augen und einem Gesicht, das aussah, als hätte die Dame ein wenig zu viel Zeit auf der Sonnenbank verbracht.
»Das ist doch nur ein blöder Strauch, Earl, keine Ming-Vase«, fuhr sie fort. »Kommen Sie einfach rein, nehmen Sie sich einen Kaffee und vergessen Sie das Ganze.«
»Zu heiß für Kaffee.« Der Deputy zog seine Uniform glatt und stiefelte davon.
Doch irgendwie kam das Ganze nicht so souverän rüber, wie er es sich wahrscheinlich erhofft hatte, stellte Hope fest. Sie befeuchtete ihre Lippen und überlegte, wen sie zuerst anschauen sollte.
Sie entschied sich für die Frau. Vielleicht würde der Mann daraufhin einfach weggehen.
Die Frau trug eine Bluse, die fast so blau leuchtete wie ihre Augen und Shoffner’s auf die linke Brusttasche gestickt hatte. Darunter war ein aufgeschlagenes Buch als Logo zu sehen. Aus den Augenwinkeln heraus konnte Hope erkennen, dass das Schaufenster dieselbe Aufschrift besaß: Shoffner’s .
»Tut mir leid. Normalerweise bin ich nicht so ungeschickt«, sagte sie verkrampft.
»Waren Sie ja auch nicht«, antwortete die Frau und zuckte mit den Schultern. »Ich hab’s vom Tresen aus beobachtet. Jemand hat Sie angerempelt und ist einfach weitergelaufen. Und Sie sind daraufhin gegen den Pflanzenkübel gestolpert. Das ist nicht weiter schlimm und schon gar nicht Ihre Schuld, glauben Sie mir. Ich bin Ang Shoffner – meinem Mann und mir gehört der Laden.«
Sie schenkte Hope ein breites Grinsen und zwinkerte ihr zu. »Ich werd’s einfach von seinem Gehalt abziehen.« Dieses Lächeln war so freundlich, so warm und einladend – und irgendwie löste sich das schlechte Gefühl in Hopes Magen wieder auf.
War jedoch sofort wieder da, als dieser Mann sich zu ihnen gesellte. »Jetzt wird Prather für den Rest des Tages schlechte Laune haben, Ang. Schließlich durfte er die gewalttätige Schwerverbrecherin, die deinen Ficus auf dem Gewissen hat, nicht festnehmen.«
»Das war kein Ficus.« Ang legte den Kopf schief und betrachtete das Bäumchen. »Glaube ich jedenfalls.« Dann wandte sie sich wieder Hope zu. »Kennen Sie sich mit Pflanzen aus?«
Aber Hope konnte in diesem Augenblick nicht denken.
Nicht sprechen.
Sie schluckte nur schwer und schüttelte den Kopf.
Da war er wieder, dieser Drang, zu ihrem Auto zurückzurennen. Lauf! Lauf weg! Ganz, ganz weit weg! Und alles nur, weil dieser Mann in ihre Richtung schaute.
Er lächelte sie sogar an. Es war ein freundliches, ungekünsteltes Lächeln.
Gar nicht bedrohlich. Gar nicht lüstern.
Es war einfach nur das gleiche freundliche, ungezwungene Lächeln, das Ang ihr entgegengebracht hatte. Er besaß ebenfalls blaue Augen, aber nicht so leuchtend blaue wie Ang – nein. Seine Augen waren dunkelblau wie der Himmel im Osten, wenn im Westen gerade die Sonne unterging. Eine tief dunkelblaue … schon fast schwarze Iris, umringt von einem noch dunkleren Streifen, dazu dichte schwarze Wimpern, die diese außergewöhnlichen Augen wie Strahlen umrahmten, und goldblonde Haare – er sah
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