Blinde Wahrheit
fragte sich, ob sie mit ihm darüber reden würde.
Oh, natürlich hatte sie ihm kurz geschildert, was passiert war.
Gleich nach dem Verlassen des Sheriffbüros hatte sie ihm im Auto von den nächtlichen Schreien erzählt, woraufhin es ihm schwergefallen war, sich zu beherrschen und nicht an die Decke zu gehen.
Kein Wunder also, dass sie so blass war.
Kein Wunder, dass sie so besorgt ausgesehen hatte.
Verdammt, warum hatte sie sich nicht noch in derselben Nacht bei ihm gemeldet? Warum hatte sie ihn nicht angerufen, als es passiert war? Er wäre innerhalb weniger Minuten da gewesen – bei ihr.
Aber natürlich rief sie ihn nicht an, verflucht noch mal. Das wäre ihr als Allerletztes in den Sinn gekommen. Sie wandte sich zwar an ihn, wenn sie in die Stadt oder zum Bezirkssheriff gebracht werden wollte, aber ganz sicher würde sie ihn nicht anrufen, wenn sie mitten in der Nacht eine Schulter zum Anlehnen brauchte, wenn sie allein war … und sich fürchtete.
Wenn sie eine Frau schreien hörte.
Schreie …
Jennings. Keith Jennings. Law ging im Kopf alle Personen durch, die er kannte, bis er ein Gesicht zu dem Namen hatte. Wahrscheinlich hätte es sie auch schlimmer erwischen können.
Jennings war ein ruhiger Kerl – für Laws Begriffe manchmal schon fast zu ruhig. Er mochte es lieber, wenn die Leute redeten und ständig in Bewegung waren, da er sie dann leichter durchschaute. Jennings dagegen konzentrierte sich ganz allein auf seinen Job. Soweit Law es jedoch beurteilen konnte, versuchte er bei seiner Arbeit immer fair und gründlich vorzugehen. Und in einer Kleinstadt wie Ash fiel es leicht, jemanden zu beobachten.
Außerdem hatte er ein Talent für so etwas.
Jennings machte einfach seine Arbeit.
Ja, es hätte schlimmer kommen können … zum Beispiel in Form von Prather. Wenn der Idiot am Wochenende die Nachtschicht gehabt hätte, wäre Lenas Bericht wahrscheinlich noch nicht einmal getippt worden. Himmel, Prather hätte womöglich sogar einen Vorwand gefunden, um gar keinen Bericht schreiben zu müssen.
Irgendwie gelang es diesem Mann immer, eine Sache in den Sand zu setzen und es dann so aussehen zu lassen, als wäre jemand anderes schuld daran.
Lena stieß einen leisen, müden Seufzer aus.
Law lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und, willst du mit mir darüber reden?«
»Hab ich doch«, erwiderte sie erschöpft.
»Nein. Es war dasselbe, das du auch der Polizei erzählt hast. Ich würde aber gern wissen, wie es dir geht, warum du dich sorgst, worüber du dir Gedanken machst. All das, was du mir normalerweise erzählen würdest. Bis jetzt hast du es jedoch für dich behalten. Kommt noch was?«
Sie biss sich auf die Unterlippe und rieb sich die Augen hinter den Brillengläsern. Sie hatte ganz offensichtlich Kopfschmerzen, drehte den Kopf erst in die eine, dann in die andere Richtung, massierte sich den Nacken.
»Komm schon, Lena. Red mit mir.«
»Ich hab Angst. Mir ist schlecht. Ich fühl mich hilflos. Und ich bin sauer.«
»Warum bist du sauer?«, fragte er.
Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Weil da draußen jemand ist – oder war. Vielleicht ist es nun schon zu spät, ich weiß es nicht. Aber sie hat Hilfe gebraucht – und zwar dringend, Law. Und keiner ist ihr zu Hilfe gekommen. Niemand kann sie finden. Will überhaupt mal jemand nach ihr suchen?«
»Jennings hat nach ihr gesucht«, antwortete er sanft. »Du hast versucht, ihr zu helfen und die Polizei gerufen.«
Lena schnaubte. »Oh ja, das hat ja auch viel gebracht.« Langsam setzte sie die Brille ab und offenbarte das blasse, fast kristallene Blau ihrer Augen. Bei ihrer Geburt war sie nur auf dem linken Auge blind gewesen. Bis zum Alter von zehn Jahren hatte sie auf dem rechten Auge sehen können, war dann jedoch verletzt worden, als sie ohne Schutzausrüstung mit Freunden Baseball gespielt hatte. Solche Aktivitäten waren offenbar ein großes Risiko für Menschen mit Sehschwäche. Sie hatte einen Ball gegen ihr gesundes Auge bekommen, und durch die Verletzung war sie schließlich auch auf diesem erblindet.
Law liebte ihre Augen. Er wusste, dass sie sie nicht gern zeigte … Na ja, so stimmte das vielleicht auch nicht ganz. Lena hatte nicht immer viel Geduld mit den Menschen. Es machte ihr zwar nichts aus, wenn sie Fragen stellten, aber die meisten starrten sie eher bloß an, als sie anzusprechen. Und sie merkte es, wenn sie angestarrt wurde – sie konnte es förmlich spüren, so viel
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