Blinde Wahrheit
Roz zu Lena. »Gab’s bei dir letzte Nacht irgendwelchen Ärger?«
»Eleganter, subtiler Themenwechsel, Ezra«, erwiderte diese trocken.
»Ja, ich weiß, ich bin einer von den ganz Raffinierten. Und du versuchst einer Antwort auszuweichen.«
»Stimmt. Das tue ich.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. »Und nein, gab es nicht. Können wir über etwas anderes reden?«
»Damit gewinnst du aber auch keinen Preis für geschickte Übergänge – du gibst dir ja nicht mal Mühe«, neckte er sie.
Lena hob eine Augenbraue. »Wozu sollte ich mich auch verstellen? Ich will einfach nicht darüber reden.«
»Davon wird das Problem aber nicht gelöst.«
»Es wird auch nicht gelöst, wenn ich darüber rede«, fauchte sie ihn an, seufzte dann jedoch müde.
Ezra beobachtete, wie sie sich mit ihrer schlanken Hand die rechte Schläfe rieb, bevor sie sie fest zur Faust ballte, sodass die Knöchel ganz weiß wurden. »Entschuldige bitte. Pass auf, ich möchte einfach nicht darüber reden. Wirklich, wirklich nicht.«
»Das verstehe ich natürlich.« Das tat er tatsächlich. Aber er hatte ein ganz komisches Gefühl bei der Sache. Auch am Tag zuvor im Büro des Sheriffs war Lena so verschlossen gewesen, was ihn jedoch nicht daran gehindert hatte, sich ein bisschen umzuhören.
Er wusste, wie man an Informationen kam, und das Wenige, was er erfahren hatte, war äußerst beunruhigend. Zusammen mit der Angst, die ihr regelrecht ins Gesicht geschrieben stand, konnte dies seines Erachtens nur eins bedeuten: schlechte Neuigkeiten.
Schreie – mitten in der Nacht.
Prather wollte die Sache vielleicht herunterspielen, aber Ezra würde das nicht tun.
Nicht mit diesem flauen Gefühl im Magen. Auch wenn er nur zu gern davon ausgegangen wäre, dass er nur Hunger hatte, wusste er es besser. Sein Bauchgefühl mochte ihn in der Vergangenheit ein-, zweimal im Stich gelassen haben, aber auf seinen Instinkt konnte er sich nach wie vor verlassen.
Irgendetwas war im Busch.
Er beugte sich vor und legte beschwichtigend die Hand auf ihre Faust. »Du willst nicht darüber reden, in Ordnung. Aber bitte denk darüber nach – ist es wirklich so klug, sich davor zu verstecken?«
»Was soll ich denn machen?« Ihre Miene verfinsterte sich. »Ich habe die Polizei bereits gerufen, und es ist nichts dabei herausgekommen. Was kann ich denn noch tun?«
Ezra rieb ihr mit dem Daumen über die verkrampfte Hand. »Na ja, als Erstes könntest du mir erzählen, was du dem Bezirkssheriff geschildert hast. Erzähl mir, was genau passiert ist.«
»Warum?«, fragte sie leise. »Wozu denn? Du hast doch selbst gesagt, dass du beim Staat Kentucky angestellt seiest.«
»Ja, aber ich bin trotzdem Polizist. Und im Gegensatz zu diesem Vollidioten Prather habe ich meinen Verstand nicht an der Garderobe abgegeben – ich kann zuhören. Vielleicht … tja, vielleicht fällt mir ja etwas auf, das denen entgangen ist.«
»Was denn zum Beispiel?«, murrte sie und zog ihre Hand zurück.
Diese Geste versetzte ihm einen Stich ins Herz. Er ging davon aus, sie würde ihm jeden Moment sagen, er solle das Ganze vergessen, und suchte bereits nach neuen Argumenten.
Doch zu seiner Überraschung seufzte sie nur. »So viel gibt es da nicht zu erzählen, Ezra. Ich habe geschlafen, es war spät. Ich bin von irgendeinem Geräusch aufgewacht und habe daraufhin einen Augenblick lang gebraucht, um herauszufinden, wovon genau. Es waren Schreie. Von einer Frau. Sie hat um Hilfe gerufen. Ich habe sie noch vier weitere Male gehört. Und dann … nichts mehr.«
»Woher kamen die Schreie?«
»Aus dem Waldstück auf der Westseite meines Hauses. Die Frau war vermutlich so dreihundert Meter entfernt. Allzu weit kann es nicht weg gewesen sein, sonst hätte ich sie nicht gehört.« Sie lächelte schwach. »Meine Ohren sind zwar ganz gut, aber so gut nun auch wieder nicht.«
»Was schätzt du, wie alt sie war?«
»Ich … Ich weiß es nicht. Es war auf jeden Fall eine Frau, kein Kind. Aber sie hätte sowohl um die zwanzig sein können als auch dreißig, vierzig … Sie klang jetzt zwar nicht so, als bräuchte sie einen Rollator, aber selbst ein Alter von fünfzig, sechzig Jahren wäre durchaus denkbar. Ich kann es einfach nicht sagen.« Lena schüttelte den Kopf. »Ich weiß bloß, dass sie … verängstigt klang, geradezu verzweifelt.« Sie wandte das Gesicht ab und schluckte schwer. »Vollkommen verängstigt.«
Als sie ihn wieder ansah, schenkte sie ihm ein freches, aber etwas gequältes
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