Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
verstehe ihn. Wir akzeptieren einander und beschließen, zusammenzuleben. Nur ich und der Wind – da ist kein Raum mehr für etwas anderes. Das ist der Moment, den ich am meisten liebe. Nein, ich habe keine Angst. Sobald ich in dieser Höhe einen Fuß nach draußen setze und mich ganz in diesen Zustand der Konzentration hineinbegebe, verschwindet jede Furcht. Wir sind allein in unserer vertrauten Leere. Diesen Moment liebe ich mehr als alles andere.«
    Kirie sprach mit nüchterner Selbstsicherheit. Junpei wusste nicht, ob die Interviewerin ihr folgen konnte. Als das Interview beendet war, ließ Junpei das Taxi anhalten und stieg aus, um das letzte Stück zu Fuß zu gehen. Hin und wieder schaute er an einem der Hochhäuser hinauf und beobachtete die vorüberziehenden Wolken. Ihm wurde klar, dass sich niemand zwischen Kirie und den Wind schieben konnte. Heftige Eifersucht überkam ihn. Aber Eifersucht auf wen oder was? Auf den Wind? Wer um alles in der Welt war eifersüchtig auf den Wind?
    Danach hoffte Junpei noch mehrere Monate, dass Kirie sich bei ihm melden würde. Er hätte sich gern mit ihr getroffen und über vieles mit ihr geredet. Über den nierenförmigen Stein zum Beispiel. Aber sie meldete sich nie, und seine Anrufe konnten nie »weitergeleitet« werden. Als der Sommer kam, hatte er fast alle Hoffnung aufgegeben. Offenbar hatte sie nicht die Absicht, ihn wiederzusehen. Und so endete ihre Beziehung in aller Ruhe, ohne Streitereien und Geschrei – wie er so viele andere Beziehungen mit Frauen beendet hatte. Irgendwann hören die Anrufe auf, und alles kommt still und wie von selbst zu Ende.
    Soll ich sie mitzählen? War sie eine der drei Frauen, die wahrhaft von Bedeutung für mich waren? Junpei quälte sich mit diesen Fragen, ohne zu einem Schluss zu gelangen. Er nahm sich vor, noch ein halbes Jahr zu warten und sich dann zu entscheiden.
    In diesem halben Jahr arbeitete er sehr konzentriert und schrieb mehrere Kurzgeschichten. Wenn er am Schreibtisch saß, dachte er oft an Kirie, die vielleicht in diesem Augenblick gerade irgendwo hoch oben mit dem Wind allein war. Während er ganz allein seine Geschichten schrieb, war sie ganz allein dort oben, nicht angeseilt, höher als alle anderen. Hatte sie einmal diesen Zustand von Konzentration erreicht, verschwand jede Furcht. Nur ich und der Wind . Junpei dachte häufig an ihre Worte, und es wurde ihm klar, dass er für sie etwas empfand, das er noch für keine andere Frau empfunden hatte. Es war ein tiefes Gefühl, das deutliche Konturen und ein spürbares Gewicht hatte. Aber er konnte ihm noch keinen Namen geben. Austauschbar war dieses Gefühl jedenfalls nicht. Selbst wenn er Kirie noch einmal begegnen sollte, würde dieses Gefühl in seinem Körper erhalten bleiben, vielleicht im Mark seiner Knochen. Für immer würde er ihre Abwesenheit körperlich spüren.
    Als das Jahr zu Ende ging, fasste Junpei seinen Entschluss. Kirie war die zweite und damit eine der Frauen, die »wahrhaft von Bedeutung« für ihn gewesen sind. Treffer Nummer zwei. Jetzt blieb nur noch eine übrig, aber das machte Junpei keine Angst mehr. Zahlen waren nicht wichtig. Der Countdown war unwichtig. Wichtig war die Entscheidung, einen anderen Menschen ganz und gar anzunehmen. Das hatte er begriffen. Und dass es immer sein musste, als wäre es das erste und das letzte Mal.

    Eines Morgens bemerkt die Ärztin, dass der dunkle nierenförmige Stein von ihrem Schreibtisch verschwunden ist. Und sie weiß: Er wird nicht mehr zurückkommen.

Wo ich es vielleicht finde
    »Der Vater meines Mannes wurde vor drei Jahren von einer Straßenbahn überfahren«, sagte die Frau und verstummte.
    Ich sah sie nur an und nickte zweimal. Während dieser Pause prüfte ich mit einem Blick auf das halbe Dutzend Bleistifte in der Schreibtischschale, ob alle ordentlich gespitzt waren. Wie ein Golfspieler sich mit aller Sorgfalt für einen Schläger entscheidet, wog ich ab, welchen ich benutzen sollte. Schließlich entschied ich mich für einen, der weder zu spitz noch zu rund war, sondern gerade richtig.
    »Das Ganze ist etwas peinlich«, sagte die Frau.
    Ich behielt meine Meinung für mich, legte mir einen Block zurecht und probierte den Stift aus, indem ich das Datum und den Namen der Frau notierte.
    »In Tokyo gibt es doch fast überhaupt keine Straßenbahnen mehr. Alles wurde auf Busse umgestellt. Die letzten haben sie wohl aus Gründen der Nostalgie gelassen. Und eine davon hat meinen Schwiegervater getötet.«

Weitere Kostenlose Bücher