Blinde Weide, Schlafende Frau
nichts fehlt, nichts wurde bewegt. Nur der Stein scheint zu wandern. Sie kann es sich nicht erklären. Was meinst du? Warum wechselt der Stein jede Nacht seinen Standort?«
»Der nierenförmige Stein wird schon seine Gründe haben«, sagte Kirie einfach.
»Was für Gründe könnte denn ein Stein haben?«
»Er will sie aufrütteln. Nach und nach, ganz allmählich.«
»Aber warum will er sie aufrütteln?«
»Keine Ahnung«, sagte sie. Dann kicherte sie. »Vielleicht will er, dass sie ihn erweicht?«
»Sehr witzig«, sagte Junpei.
»Das musst du doch wissen. Schließlich bist du der Schriftsteller und nicht ich. Ich höre nur zu.«
Junpei runzelte die Stirn. Es pochte leicht in seinen Schläfen, vielleicht weil er zu angestrengt nachgedacht hatte. Oder er hatte zu viel Wein getrunken. »Ich kriege es nicht richtig zusammen«, sagte er. »Wenn ich nicht am Schreibtisch sitze, meine Hände bewege und die Sätze zu Papier bringe, kommt die Handlung nicht voran. Kannst du noch ein bisschen warten? Jetzt wo wir darüber geredet haben, habe ich das Gefühl, die Geschichte entwickelt sich von selbst weiter.«
»Kein Problem«, sagte Kirie. Sie streckte die Hand nach ihrem Weißweinglas aus und nahm einen Schluck. »Ich kann warten. Diese Geschichte ist spannend. Ich will unbedingt wissen, was es mit dem nierenförmigen Stein auf sich hat.«
Sie wandte sich ihm zu und schmiegte ihre wohlgeformten Brüste an ihn.
»Weißt du, Junpei«, sagte sie leise, als würde sie ihm ein Geheimnis anvertrauen. »Alle Dinge auf der Welt haben ihre Gründe für das, was sie tun.« Junpei war gerade dabei einzuschlafen und konnte nicht antworten. In der Abendluft verloren die Sätze ihre Gestalt und grammatische Struktur und verbanden sich mit dem zarten Duft des Weines, bevor sie die verborgenen Winkel seines Bewusstseins erreichten. »So hat auch der Wind seine Gründe. Wir merken es nur nicht, weil wir zu sehr mit unserem eigenen Leben beschäftigt sind, doch irgendwann weist er uns darauf hin. Der Wind ergreift uns mit einer bestimmten Absicht und rüttelt und schüttelt uns. Der Wind weiß alles, was in dir ist. Und nicht nur der Wind. Alle Dinge wissen das, auch die Steine. Sie kennen uns sehr genau, durch und durch. Klar wird uns das aber nur zu gewissen Zeiten. Dann ist es das Beste, wir überlassen uns ihnen, nehmen sie in uns auf. Dann überleben wir und gewinnen an Tiefe.«
An den folgenden fünf Tagen verließ Junpei kaum das Haus. Er saß am Schreibtisch und schrieb die Geschichte über den nierenförmigen Stein zu Ende. Wie Kirie es vorausgeahnt hatte, rüttelt der Stein die Ärztin langsam, aber entschieden auf. Eines Abends beim hastigen Sex mit ihrem Liebhaber in einem anonymen Hotelzimmer tastet sie verstohlen nach etwas Nierenförmigem auf seinem Rücken. Sie weiß, dass ihr nierenförmiger Stein dort lauert. Er ist ihr geheimer Informant, den sie selbst in den Körper ihres Liebhabers eingesetzt hat. Der Stein windet sich wie ein Wurm unter ihren Händen und sendet ihr nierenhafte Botschaften. Sie spricht mit der Niere, tauscht mit ihr Informationen aus. Sie betastet die glitschige Oberfläche.
Allmählich gewöhnt sich die Ärztin an die Existenz des dunklen Steins, der jede Nacht wandert. Sie akzeptiert ihn als naturgegeben. Es überrascht sie nicht mehr, wenn er sich in der Nacht bewegt hat. Jeden Morgen, wenn sie in ihr Büro kommt, findet sie den Stein irgendwo anders. Sie legt ihn auf ihren Schreibtisch zurück. Dies hat sich zu einem Teil ihrer täglichen Routine entwickelt. Solange sie im Raum ist, verharrt der Stein ruhig an seinem Platz, wie eine Katze, die in der Sonne schläft. Erst wenn sie fort ist und die Tür hinter sich abgeschlossen hat, erwacht er und geht auf Wanderschaft.
In jeder freien Minute streckt sie nun die Hand nach dem Stein aus und streichelt seine glatte, dunkle Oberfläche. Mit der Zeit fällt es ihr immer schwerer, den Blick von ihm zu lösen. Sie ist wie hypnotisiert von ihm und verliert das Interesse an allem anderen. Sie kann nicht mehr lesen, geht nicht mehr ins Fitness-Studio. Gerade noch schafft sie es, sich um ihre Patienten zu kümmern. Alle anderen Tätigkeiten führt sie nur noch aus Gewohnheit oder aufs Geratewohl aus. Sie hat keine Lust mehr, mit ihren Kollegen zu sprechen, sie vernachlässigt ihre Körperpflege, verliert den Appetit. Selbst die Umarmungen ihres Liebhabers werden ihr lästig. Wenn sie allein ist, spricht sie leise mit dem Stein und lauscht seinen
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