Blinde Weide, Schlafende Frau
wortlosen Mitteilungen, ähnlich wie einsame Menschen sich mit ihren Hunden oder Katzen unterhalten. Der schwarze nierenförmige Stein beherrscht nun fast ihr gesamtes Leben.
Beim Weiterschreiben wird Junpei eines klar: Der Stein ist keineswegs ein Objekt, das von außen gekommen ist. Etwas im Inneren der Ärztin aktiviert den nierenförmigen Stein, um sie zu einem bestimmten Handeln zu drängen. Deshalb sendet es ihr unentwegt Signale in Form der nächtlichen Bewegungen des Steins.
Beim Schreiben denkt Junpei an Kirie. Er spürt, dass sie (oder etwas in ihr) die Geschichte vorantreibt. Eine derart surreale Handlung war nie seine Absicht gewesen; eigentlich hatte er eine ruhigere, psychologische Geschichte im Kopf gehabt, eine Geschichte ohne Steine, die sich eigenständig bewegen.
Junpei stellte sich vor, dass die Ärztin sich von dem verheirateten Chirurgen abwenden würde. Vermutlich sehnte sie sich unbewusst schon länger danach. Vielleicht würde sie ihn mit der Zeit sogar hassen.
Als die weitere Handlung feststand, fiel es ihm relativ leicht, die Geschichte zu beenden. Er saß am Computer und schrieb den Schluss in einem für seine Verhältnisse zügigen Tempo nieder, während er dabei leise Lieder von Mahler hörte. Die Ärztin beschließt, sich von dem Chirurgen zu trennen. »Wir können uns nicht mehr treffen«, sagt sie. Er: »Können wir nicht wenigstens noch einmal darüber reden?« Sie (fest): »Nein, das ist unmöglich.« An ihrem nächsten freien Tag nimmt sie eine Fähre hinaus in die Bucht von Tokyo und wirft den nierenförmigen Stein vom Deck aus ins Meer. Der Stein sinkt auf den Grund des tiefen dunklen Ozeans, geradewegs auf den Kern der Erde zu. Die Ärztin beschließt, ein neues Leben anzufangen. Nachdem sie den Stein fortgeworfen hat, fühlt sie sich leicht.
Doch als sie am nächsten Tag ins Krankenhaus kommt, liegt der Stein auf ihrem Schreibtisch und wartet auf sie. Er liegt genau dort, wo er hingehört, schwarz und nierenförmig wie eh und je.
Sobald Junpei die Geschichte beendet hatte, rief er Kirie an. Vielleicht würde sie gern das fertige Werk lesen, zu dem sie ihn in gewisser Weise inspiriert hatte. Doch er erreichte sie nicht. »Ihr Anruf kann nicht weitergeleitet werden«, sagte eine elektronische Stimme. »Bitte überprüfen Sie die Nummer und versuchen Sie es noch einmal.« Junpei versuchte es immer wieder, doch das Ergebnis war stets das gleiche. Vermutlich war ihr Handy nicht in Ordnung.
Junpei blieb zu Hause und wartete auf Nachricht von Kirie, aber es kam keine. Ein Monat verging. Dann zwei, dann drei. Es wurde Winter, das neue Jahr brach an. Seine Geschichte erschien in der Februarausgabe einer Literaturzeitschrift. In der Vorankündigung in einer Zeitung wurden Junpeis Name und der Titel »Der nierenförmige Stein, der jeden Tag wanderte« genannt. Vielleicht würde Kirie die Anzeige sehen, die Zeitschrift kaufen, die Geschichte lesen und sich mit ihm in Verbindung setzen, um ihm ihren Eindruck mitzuteilen. Er hoffte es. Doch nur Schweigen türmte sich vor ihm auf, Schicht um Schicht.
Der Schmerz, den Junpei über Kiries Verschwinden aus seinem Leben empfand, war viel heftiger, als er es sich vorgestellt hatte. Die Leere, die sie hinterlassen hatte, verstörte ihn. Mehrmals am Tag dachte er: »Wenn sie doch nur hier wäre.« Er sehnte sich nach ihrem Lächeln, nach der Art, wie ihre Lippen die Worte formten, nach ihrer Haut, wenn sie einander umarmten. Weder seine Lieblingsmusik noch lang ersehnte Neuerscheinungen konnten ihn trösten. Alles fühlte sich fern und fremd an. Vielleicht war Kirie die zweite Frau, dachte Junpei.
Junpeis nächste Begegnung mit Kirie fand an einem der ersten Tage des Frühjahrs um die Mittagszeit statt – obwohl er es kaum ›Begegnung‹ nennen konnte. Er hörte Kiries Stimme.
Sein Taxi steckte im Stau, und der junge Fahrer hörte eine Sendung auf UKW. Auf einmal ertönte Kiries Stimme aus dem Radio. Zuerst war er nicht sicher, ob es Kirie war; vielleicht klang die Stimme nur ähnlich. Aber je aufmerksamer er lauschte, desto sicherer wurde er, dass es Kirie war. Die gleiche fließende Intonation, der entspannte Tonfall und die ihr eigene Art, Sprechpausen einzulegen.
»Können Sie das bitte etwas lauter stellen?«, sagte Junpei.
»Klar«, erwiderte der Fahrer.
Das Interview fand im Studio des Senders statt. Eine Sprecherin stellte die Fragen.
»Sie liebten also schon von klein auf die Höhe?«
»Ja«, sagte Kirie oder eine Frau,
Weitere Kostenlose Bücher