Blinde Weide, Schlafende Frau
die genau die gleiche Stimme hatte. »Soweit ich mich zurückerinnern kann, mag ich hohe Gebäude. Je höher ich kam, desto friedlicher wurde mir zumute. Ich bettelte immer, meine Eltern sollten Hochhäuser mit mir besuchen. Ich war ein sehr eigenartiges Kind«, sagte die Stimme lachend.
»Und dadurch sind Sie schließlich zu Ihrem Beruf gekommen.«
»Zunächst habe ich als Analystin bei einer Effektenbank gearbeitet, aber ich wusste von Anfang an, dass das nicht das Richtige für mich war. Nach drei Jahren kündigte ich und wurde erst einmal Hochhaus-Fensterputzerin. Eigentlich wollte ich Gerüstbauerin werden, aber das ist eine Machowelt, in der Frauen kaum eine Chance haben. Also habe ich erst mal als Fensterputzerin angefangen.«
»Ein recht extremer Berufswechsel – von der Analystin zur Fensterputzerin, nicht?«
»Ja, aber für mich, ehrlich gesagt, ein angenehmer. Wenn etwas fällt, dann ist es man selbst und nicht die Börsenkurse.« Wieder lachte sie.
»Die Fensterputzer, von denen Sie sprechen, werden in Gondeln an Hochhäusern heruntergelassen.«
»Genau. Natürlich ist man angeseilt, aber es gibt Stellen, an die man nur herankommt, wenn man das Seil löst. Das macht mir überhaupt nichts aus. Ganz gleich, wie hoch ich bin, ich habe nie Angst. Dadurch bin ich natürlich eine recht wertvolle Arbeitskraft.«
»Dann sind Sie wahrscheinlich auch Bergsteigerin?«
»Die Berge interessieren mich sehr wenig. Ich habe es ein paar Mal mit Bergsteigen probiert, aber es bedeutet mir nichts. Ich kann noch so hoch steigen, es macht mir kein Vergnügen. Mich interessieren nur von Menschen errichtete hohe Gebäude, die unmittelbar vom Boden aufragen. Fragen Sie mich nicht, warum.«
»Im Augenblick leiten Sie ein Fensterreinigungsunternehmen, das auf Hochhäuser im Stadtgebiet Tokyo spezialisiert ist.«
»Ja«, sagte Kirie. »Vor sechs Jahren habe ich mit meinen Ersparnissen eine eigene kleine Firma gegründet. Natürlich begleite ich meine Teams auch, aber im Grunde leite ich jetzt das Unternehmen. Ich kann meine eigenen Regeln aufstellen und muss mir von keinem Anweisungen erteilen lassen. Das kommt mir sehr entgegen.«
»Das heißt, Sie können das Sicherheitsseil ausklinken, wann immer Sie wollen?«
»Kurz gesagt, ja.« (Sie lacht.)
»Sie sind nicht gern angeseilt, oder?«
»Stimmt. Ich habe dann das Gefühl, nicht ich selbst zu sein. Als würde ich ein steifes Korsett tragen.« (Sie lacht.)
»Sie lieben die Höhe also wirklich?«
»Ja. Die Höhe ist meine Berufung. Ich kann mir keine andere Arbeit vorstellen. Die Arbeit sollte ein Akt der Liebe sein, keine Vernunftehe.«
»Und jetzt spielen wir wieder Musik«, sagte die Sprecherin. »›Up on the Roof‹ von James Taylor. Danach erfahren Sie mehr über Hochseilartistik.«
Während das Musikstück lief, beugte sich Junpei vor. »Was genau macht diese Frau?«, fragte er den Fahrer.
»Sie spannt Seile zwischen Hochhäusern und läuft darüber«, erklärte dieser. »Mit einer Stange in den Händen, um das Gleichgewicht besser halten zu können. Sie ist so etwas wie eine Artistin. Ich krieg schon die Panik, wenn ich nur in einem Glasaufzug fahre. Sie holt sich so ihren Kick. Ein bisschen schräg muss sie schon sein. Ganz jung ist sie wahrscheinlich auch nicht mehr.«
»Das ist ihr Beruf ?«, fragte Junpei. Seine Stimme klang heiser und entglitt seiner Kontrolle. Sie kam ihm vor wie die Stimme eines anderen, die durch einen Spalt in der Decke des Taxis drang.
»Ja, wahrscheinlich lässt sie sich von Sponsoren finanzieren. Erst neulich ist sie auf irgendeiner berühmten Kathedrale in Deutschland herumgeturnt. Angeblich würde sie ihr Seil gern zwischen noch höheren Gebäuden spannen, bekommt aber keine Genehmigung dafür. Weil man in solchen Höhen kein Netz mehr spannen kann. Also steigert sie ihren Rekord nur minimal. Natürlich kann sie davon nicht leben. Deshalb hat sie diese Fensterreinigungsfirma, Sie haben es ja gehört. Beim Zirkus will sie auch nicht arbeiten, obwohl sie dort natürlich auf dem Seil laufen könnte. Aber für sie sind nur Hochhäuser interessant. Irgendwie abartig.«
»Das Herrlichste daran ist, dass man sich dort oben in einen anderen Menschen verwandelt«, erklärte Kirie der Moderatorin. »Man verwandelt sich, oder besser gesagt, muss sich verwandeln, sonst kann man nicht überleben. Dort oben bin ich ganz allein mit dem Wind. Sonst gibt es da nichts. Der Wind umfängt und schüttelt mich. Er versteht mich, und ich
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