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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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mit einem höheren Posten bei Honda die Stelle besorgt. Man konnte nicht behaupten, dass Mizukis Job besonders aufregend war, aber sie trug eine gewisse Verantwortung, und insgesamt war die Stelle nicht übel. Der Autohandel gehörte nicht direkt zu ihrem Aufgabenbereich, aber wenn die Verkäufer außer Haus waren, konnte sie doch die meisten Fragen der Kunden zufriedenstellend beantworten. Sie hatte sich von ihren Kollegen ein paar Verkaufstricks abgeschaut und sich rasch die nötigen Spezialkenntnisse angeeignet. Sie konnte überzeugend darlegen, dass ein Odyssey sich mit einer Präzision lenken ließ, die man einem Minivan nicht zugetraut hätte, und kannte den Benzinverbrauch aller Modelle. Sie konnte gut reden und gewann mit ihrem charmanten Lächeln das Vertrauen der Kunden. Sie hatte das Talent, die Persönlichkeit eines Käufers einzuschätzen und ihre Verkaufsstrategie dementsprechend zu variieren. Häufig brachte sie Kunden zum Vertragsabschluss, musste jedoch am Ende das Fachpersonal hinzuziehen, weil sie nicht autorisiert war, Preisnachlässe zu gewähren oder über bestimmte Vergünstigungen zu verhandeln. Auch wenn sie einen Abschluss zum größten Teil selbständig erreicht hatte, kassierten schließlich die Verkäufer die Kommission. Zum Dank für den unverdienten Geldsegen lud der eine oder andere sie zum Essen ein. Wenn ich unabhängig verkaufen dürfte, dachte sie manchmal, würde der Umsatz sicher steigen. Aber niemand fand, dass es bei Mizukis Verkaufstalent die reine Verschwendung sei, sie den Papierkram und Telefondienst machen zu lassen, und versetzte sie in den Vertrieb. Aber das ist eben das System, nach dem die meisten Firmen funktionieren. Verkauf ist Verkauf und Büro ist Büro, und diese Grenzen werden nur in Ausnahmefällen überschritten. Andererseits war Mizuki nicht besonders ehrgeizig und hatte gar nicht den Wunsch, ihren Arbeitsbereich auszudehnen oder Karriere zu machen. Sie zog es vor, feste Arbeitszeiten von neun bis fünf zu haben, den gesamten Urlaub zu nehmen, der ihr zustand, und ihre freie Zeit in vollen Zügen zu genießen.
    Im Büro führte Mizuki weiter ihren Mädchennamen. Der Hauptgrund dafür war, dass sie jedem einzelnen Kunden und Mitarbeiter ihre Namensänderung hätte mitteilen müssen, was ihr einfach zu lästig war. Ihre Visitenkarten und ihre Stechkarte lauteten auch noch auf Mizuki Ozawa. Einige Kollegen nannten sie Frau Ozawa und ein paar, die sie länger kannten, bei ihrem Vornamen Mizuki. Auch am Telefon meldete sie sich weiter mit Ozawa. Dies geschah aus reiner Bequemlichkeit und nicht etwa, weil sie ihren neuen Namen abgelehnt hätte.
    Ihr Mann wusste von der Sache mit dem Mädchennamen (er rief sie ja hin und wieder im Büro an) und hatte nichts dagegen. Er war offenbar der Ansicht, dass es um praktische Gründe ging. Solange ihm die Logik einer Sache einleuchtete, beschwerte er sich nie. In dieser Hinsicht war er ein sehr unkomplizierter Mensch.

    Beunruhigt begann Mizuki sich zu fragen, ob ihre Vergesslichkeit möglicherweise das Symptom einer schweren Krankheit sei. Zum Beispiel Alzheimer. Oder ein anderes dieser vielen unbekannten, komplizierten und tödlichen Leiden auf der Welt? Schließlich hatte sie bis vor kurzem auch nichts von der Existenz des Myasthenie-Syndroms oder von Huntington Chorea gewusst. Es musste zahllose andere Krankheiten geben, von denen sie noch nichts gehört hatte. Meist waren die Anfangssymptome leicht. Zum Beispiel fiel einem der eigene Name nicht mehr ein … Mizuki fürchtete, eine unheimliche Krankheit könnte sich unbemerkt in ihrem Körper ausbreiten.
    Also suchte sie eine Klinik auf und schilderte ihr Problem. Doch der zuständige junge Arzt – der so blass und erschöpft aussah, dass man ihn eher für einen Patienten gehalten hätte – nahm sie gar nicht ernst.
    »Gibt es außer Ihrem Namen noch andere Dinge, die Sie sich nicht merken können?«, fragte er.
    »Nein«, sagte Mizuki. »Nur meinen Namen.«
    »Hm, das fällt wohl eher in den Bereich der Psychiatrie«, sagte er desinteressiert und teilnahmslos. »Wenn Sie außer Ihrem Namen noch andere Dinge vergessen, kommen Sie bitte wieder. Wir führen dann entsprechende Untersuchungen durch.« Offenbar wollte er ihr zu verstehen geben, dass er sich um schwerkranke Menschen zu kümmern habe und es ja wohl Schlimmeres gebe, als ab und zu den eigenen Namen zu vergessen.
    Eines Tages stieß sie in dem Stadtteilblättchen, das mit der Post zugestellt wurde, auf einen

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