Blinde Weide, Schlafende Frau
überprüfen, hüllt er sich in ein Regencape aus den Vietnamkriegsbeständen der amerikanischen Armee, schiebt sich Bierdosen in beide Taschen und marschiert in Richtung Zoo. Sobald sich ein Taifun nähert, nimmt er sich frei.
Wenn er Pech hat, sind die Tore des Zoos »witterungsbedingt« geschlossen.
Das leuchtet natürlich ein. Wer unternimmt schon bei einem Taifun einen Nachmittagsausflug in den Zoo, um sich Zebras und Giraffen anzuschauen?
In diesem Fall setzt sich mein Freund resigniert vor die steinernen Eichhörnchen am Eingang, trinkt sein lauwarmes Bier und trottet dann wieder heim.
Wenn er jedoch Glück hat, sind die Tore offen.
Er bezahlt den Eintritt und geht hinein. Eine feuchte Zigarette im Mund schaut er sich jedes einzelne Tier an. Andere Besucher gibt es kaum. Auch die meisten Tiere haben sich in ihre Behausungen zurückgezogen, starren stumpf in den Regen oder toben aufgeregt durch die Sturmböen. Der jähe Abfall des Luftdrucks macht ihnen Angst oder erregt ihre Wut.
Sein erstes Bier trinkt mein Freund immer vor dem Käfig der bengalischen Tiger. (Die bengalischen Tiger reagieren am wildesten auf Taifune.) Das zweite trinkt er in Gesellschaft der Gorillas, die Taifune stets unbekümmert hinnehmen. Sie scheinen sich mehr für ihn als für das Sturmgebraus zu interessieren und schauen irgendwie mitleidig zu, wie er wie eine Seejungfrau auf dem Betonboden sitzt und sein Bier trinkt. »Es herrscht eine Atmosphäre, wie wenn man mit Unbekannten im Fahrstuhl festsitzt«, sagt mein Freund.
Von seinen Taifunnachmittagen abgesehen ist mein Freund ein ziemlich normaler Mensch. Er ist bei einem nicht sehr bekannten, aber soliden Brokerhaus für Auslandsinvestitionen tätig, lebt allein in einem hübschen Apartment und wechselt halbjährlich seine Freundinnen. Warum ausgerechnet alle sechs Monate, das habe ich nie verstanden. Die Frauen gleichen einander wie Klone. Ich zumindest kann sie nie unterscheiden.
Die meisten Leute halten ihn wohl für durchschnittlicher und langweiliger, als er wirklich ist, aber das scheint ihm nichts auszumachen. Er besitzt einen gar nicht so üblen Gebrauchtwagen, eine Balzac-Gesamtausgabe, einen schwarzen Anzug, eine schwarze Krawatte und schwarze Schuhe, die sich vorzüglich für Beerdigungen eignen.
Wenn jemand stirbt und ich zur Beerdigung muss, rufe ich ihn immer an, um mir die Sachen auszuleihen. Der Anzug und die Schuhe sind mir zwar eine Nummer zu groß, aber das zu sagen wäre natürlich unfair.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Aber es steht wieder mal eine Beerdigung an.«
»Gern, gern. Sicher hast du’s eilig? Du kannst gleich vorbeikommen und dir die Sachen holen«, sagte er. Als ich ankam, hatte er den Anzug und die Krawatte schon ordentlich gefaltet auf den Tisch gelegt, die Schuhe waren geputzt und der Kühlschrank war voll kalter ausländischer Biere. Er ist der Typ, der immer alles sofort parat hat. Dass er sich die Mühe macht, zweimal im Jahr die Freundin zu wechseln, passt eigentlich gar nicht zu ihm.
»Übrigens habe ich neulich im Zoo eine Katze gesehen«, sagte er, während er ein Bier aufmachte.
»Eine Katze?«
»Mmh, vor zwei Wochen hatte ich beruflich in Hokkaido zu tun und habe mir den Zoo angesehen, nicht weit von meinem Hotel. Sie hatten dort einen Käfig mit einem Schild ›Katze‹, und darin schlief eine Katze.«
»Was für eine Katze?«
»Eine ganz gewöhnliche Hauskatze, wie es sie überall gibt, mit braunen Streifen und einem kurzen Schwanz. Sie war unheimlich fett. Sie lag nur zusammengerollt auf der Seite und pennte.«
»Vielleicht sind Katzen in Hokkaido selten?«
»Soll das ein Witz sein?«, fragte er und verdrehte die Augen. »In Hokkaido gibt es sehr wohl Katzen. Die sind dort nicht selten.«
»Dann sieh’s doch mal von der anderen Seite – warum sollten sie eigentlich im Zoo keine Katzen halten?«, fragte ich. »Das sind doch auch Tiere.«
»Da kommt die Gewohnheit ins Spiel. Hunde und Katzen sind alltägliche Tiere, man geht nicht eigens in den Zoo, um sie anzuschauen. Die kann man überall sehen«, sagte er, »genau wie Menschen.«
Als wir ein Sechserpack geleert hatten, packte er den in Plastik gehüllten Anzug, die Krawatte und die Schuhe in eine große Kaufhaustüte aus Papier.
»Immer belästige ich dich damit«, entschuldigte ich mich. »Ich sollte mir wirklich mal einen eigenen Anzug kaufen, aber ich schaffe es nie. Wenn ich einen Anzug für Beerdigungen kaufen würde, hätte ich das Gefühl, ich sei damit
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