Blinde Weide, Schlafende Frau
einverstanden, dass jemand stirbt.«
»Mach dir darum keine Gedanken. Ich benutze die Sachen ja sowieso nicht. Besser, jemand trägt sie, als dass sie sinnlos im Schrank hängen«, sagte er.
Er hatte den Anzug vor drei Jahren gekauft, aber kein einziges Mal getragen.
»Seit ich den Anzug habe, ist niemand gestorben«, sagte er.
»So was gibt’s«, sagte ich.
»Du sagst es«, erwiderte er.
*
Für mich dagegen war es das Jahr der Beerdigungen. Freunde und frühere Freunde starben, einer nach dem anderen. Es ging zu wie auf einem Hirsefeld in der glühenden Sommersonne. Ich war achtundzwanzig.
Meine Freunde waren ungefähr gleichaltrig, siebenundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig … kein Alter, um zu sterben. Dichter sterben mit einundzwanzig, Revolutionäre oder Rockmusiker mit vierundzwanzig, von da an aber sollte alles gut gehen, meint man. Man hat die legendäre Todeskurve gekratzt und den feuchten, dunklen Tunnel durchquert. Danach geht’s auf einer sechsspurigen Autobahn schnurgerade dem Ziel zu (auch wenn man keine Lust hat, voranzukommen). Wir schneiden uns die Haare und rasieren uns allmorgendlich. Wir sind weder Dichter noch Revolutionäre oder Rockmusiker. Wir schlafen nicht mehr betrunken in einer Telefonzelle ein, saufen nicht mehr bis zur Besinnungslosigkeit, hören nicht mehr morgens um vier bei voller Lautstärke Platten von den Doors. Stattdessen schließen wir bei Bekannten Versicherungen ab, trinken in Hotelbars und sammeln Zahnarztrechnungen, um sie von der Steuer abzusetzen. So ist das mit achtundzwanzig.
Doch gerade da begann das unerwartete Massaker. Es war wie ein Überraschungsangriff an einem heiteren Frühlingstag – als hätte jemand auf einem metaphysischen Hügel ein metaphysisches Maschinengewehr in Stellung gebracht und ließe metaphysische Kugeln auf uns niederprasseln. Gerade noch wollten wir uns umziehen, und plötzlich passten uns unsere Sachen nicht mehr: die Ärmel waren verkehrt herum, und mit einem Bein steckten wir in einer Hose, mit dem zweiten in einer anderen. Das totale Durcheinander.
Aber so ist der Tod nun einmal. Ob ein Kaninchen aus einem Hut springt oder aus einem Weizenfeld, es bleibt ein Kaninchen. Ein heißer Herd bleibt ein heißer Herd, und der schwarze Rauch, der aus einem Schornstein aufsteigt, bleibt eben aus einem Schornstein aufsteigender schwarzer Rauch.
*
Der erste, der die dunkle Kluft zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit (oder zwischen Unwirklichkeit und Wirklichkeit) überwand, war ein Studienfreund von mir, der nun Englisch in der Mittelstufe unterrichtete. Er war seit drei Jahren verheiratet, und seine Frau war zur Geburt ihres Babys zu ihren Eltern nach Shikoku gefahren.
An einem ungewöhnlich milden Sonntagnachmittag im Januar ging er in die Eisenwarenabteilung eines Kaufhauses, erstand ein deutsches Rasiermesser, mit dem man ein Elefantenohr hätte abschneiden können, sowie zwei Dosen Rasierschaum, ging nach Hause und ließ sich ein Bad ein. Dann holte er sich Eis aus dem Kühlschrank, leerte eine Flasche Scotch und schnitt sich in der Badewanne die Pulsadern auf. Zwei Tage später fand seine Mutter die Leiche. Die Polizei kam und nahm vom Tatort viele Fotos auf. Das Badewasser war vom Blut rot wie Tomatensaft. Die Polizei stufte den Fall als Selbstmord ein. Die Wohnung war verschlossen gewesen, und vor allem hatte der Tote das Rasiermesser selbst gekauft. Aber wozu hatte er Rasierschaum gekauft, und auch noch zwei Dosen? Das wusste niemand.
Vielleicht hatte er einfach nicht daran gedacht, dass er ein paar Stunden später tot sein würde. Oder er fürchtete, die Verkäufer würden seine Selbstmordabsicht erraten.
Er hinterließ kein Testament und keinen Abschiedsbrief. Auf dem Küchentisch hatte er nur sein Glas, die leere Whiskeyflasche, die Schüssel, in der das Eis gewesen war, und die beiden Dosen Rasierschaum zurückgelassen. Vermutlich hatte er, während er auf das Bad wartete und einen Whiskey on the Rocks nach dem anderen trank, die Dosen angestarrt und dabei Jetzt muss ich mich nie mehr rasieren oder so was gedacht.
Der Tod eines achtundzwanzigjährigen Manns ist so traurig wie Winterregen.
*
Außer ihm starben in den nächsten zwölf Monaten noch vier Leute.
Einer im März, bei einem Unfall auf einem Ölfeld in Saudi-Arabien oder Kuwait, und zwei im Juni, einer an Herzversagen und einer bei einem Verkehrsunfall. Nachdem von Juli bis November Ruhe geherrscht hatte, kam Mitte Dezember die letzte Person ums
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