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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Leben, ebenfalls bei einem Verkehrsunfall.
    Außer dem ersten Freund, der Selbstmord begangen hatte, waren die anderen gestorben, ohne überhaupt die Zeit zu haben, es zu bemerken. Als ob man nichts ahnend eine vertraute Treppe hinaufsteigt, und plötzlich fehlt eine Stufe.
    »Kannst du mir das Bett machen?«, hatte der Freund, der im Juni an Herzversagen gestorben war, zu seiner Frau gesagt. Es war vormittags elf Uhr. Er war Möbeldesigner. Um neun Uhr war er aufgestanden, hatte eine Weile in seinem Zimmer gearbeitet und dann gesagt, er sei müde. Er ging in die Küche, machte sich einen Kaffee und trank ihn. Aber der Kaffee konnte seine Müdigkeit nicht vertreiben. »Ich lege mich mal ein bisschen hin«, sagte er. » In meinem Hinterkopf rattert es so komisch .«
    Das waren seine letzten Worte. »In meinem Hinterkopf rattert es so komisch.« Er kroch ins Bett, schlief ein und wachte nicht mehr auf.
    Die letzte Person, die im Dezember starb, war die jüngste und die einzige Frau. Sie war vierundzwanzig. Das ist das Alter, in dem Revolutionäre und Rockmusiker sterben. An einem kalten, regnerischen Abend vor Weihnachten wurde sie in dem tragischen (und doch alltäglichen) Raum zwischen einem Bierlaster und einem Betonpfeiler zerquetscht.
*

    Am Tag nach der letzten Beerdigung besuchte ich, nachdem ich den Anzug von der Reinigung abgeholt hatte, meinen Freund in seiner Wohnung und brachte ihm eine Flasche Whiskey mit.
    »Zum Dank dafür, dass du mir immer aushilfst«, sagte ich.
    Natürlich war der Kühlschrank voll kalter Biere und auf sein bequemes Sofa schien ein bisschen Sonne. Auf dem Tisch standen ein sauberer Aschenbecher und ein Blumentopf mit einem Weihnachtsstern. So langsam wie ein Bär, der sich zum Winterschlaf in seine Höhle trollt, nahm mein Freund den Anzug in der Plastikfolie entgegen und hängte ihn sacht in den Schrank.
    »Hoffentlich riecht der Anzug nicht noch nach Beerdigung«, sagte ich.
    »Kleidung ist nicht wichtig. Was drinsteckt, darauf kommt es an.«
    »Hm«, machte ich.
    »Für dich war das ja ein Jahr voller Beerdigungen.« Er legte die Füße auf das Sofa gegenüber und schenkte sich Bier ein.
    »Fünf«, sagte ich und hob ihm die gespreizten Finger meiner linken Hand entgegen.
    »Bist du sicher?«
    »Jetzt sind wirklich genug gestorben.«
    »Wie beim Fluch der Pyramiden, oder?«, sagte er. »Darüber hab ich mal was gelesen. Der Fluch wirkt fort, bis genügend Leute gestorben sind. Oder bis ein roter Stern am Himmel erscheint oder der Mond einen Schatten auf die Sonne wirft.«
    Als wir ein Sechserpack getrunken hatten, gingen wir zu Whiskey über. Die weiche, winterliche Nachmittagssonne fiel schräg ins Zimmer.
    »Du sieht in letzter Zeit niedergeschlagen aus«, sagte er.
    »Kann sein«, erwiderte ich.
    »Bestimmt grübelst du nachts zu viel«, sagte er. »Ich habe aufgehört, nachts nachzudenken.«
    »Wie machst du das?«
    »Wenn ich in trübe Stimmung komme, mache ich die Wohnung sauber. Auch wenn es zwei oder drei Uhr nachts ist, spüle ich wie wild Geschirr, wienere den Herd, wische die Böden, bleiche die Geschirrtücher, räume meine Schreibtischschubladen auf und bügle alle Sachen im Schrank«, erzählte er und rührte das Eis in seinem Glas mit dem Finger um. »Wenn ich dann total erledigt bin, mache ich mir einen Drink und gehe schlafen. Mehr nicht. Morgens stehe ich auf, und bis ich mir die Socken anziehe, habe ich meistens alles vergessen. Ich erinnere mich nicht mehr, worüber ich nachgedacht habe.«
    Ich schaute mich noch einmal im Zimmer um. Wie immer war alles äußerst ordentlich und sauber.
    »Nachts um drei fällt einem Menschen so allerlei ein, dieses und jenes. Das geht jedem so. Deshalb muss jeder für sich eine Methode finden, dagegen anzugehen.«
    »Da könntest du Recht haben«, sagte ich.
    »Sogar Tiere grübeln um drei Uhr nachts«, sagte er, als sei es ihm plötzlich eingefallen. »Warst du schon mal um drei Uhr nachts im Zoo?«
    »Nein«, antwortete ich geistesabwesend. »War ich natürlich noch nicht.«
    »Ich auch erst einmal. Ich habe einen Bekannten, der im Zoo arbeitet, gebeten, mich reinzulassen, als er Nachtschicht hatte. Es ist eigentlich verboten.« Er schwenkte sein Glas. »Es war ein seltsames Erlebnis. Ich kann’s nicht gut beschreiben, aber es war, als hätte sich überall lautlos der Boden aufgetan und etwas käme heraufgekrochen. Und dieses unsichtbare aus der Erde gekrochene Etwas schien durch die Dunkelheit zu toben. Wie ein kalter Ballen

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