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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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etwas zurechtfantasiert haben könnte, das gar nicht wirklich passiert ist. Im Grunde habe ich jedoch keinen Zweifel, dass es sich so und nicht anders zugetragen hat. Immerhin erinnere ich mich bis heute genau an das Mobiliar und sogar an die Ziergegenstände in Zimmer 604. All das ist wirklich passiert und war vielleicht sogar von großer Bedeutung für mich.«
    Eine Zeit lang nippten wir schweigend an unseren Getränken und hingen jeder für sich seinen Gedanken nach.
    »Darf ich dir eine Frage stellen?«, sagte ich. »Eigentlich sind es zwei Fragen.«
    »Bitte«, sagte sie. »Als Erstes willst du wahrscheinlich wissen, was ich mir damals gewünscht habe, stimmt’s?«
    »Aber es scheint, dass du nicht darüber reden willst.«
    »Wirklich?«
    Ich nickte.
    Sie legte den Bierdeckel hin und kniff die Augen zu einem Spalt zusammen, als schaue sie in weite Ferne. »Eigentlich darf man ja auch keinem verraten, was man sich gewünscht hat.«
    »Ich habe nicht vor, es aus dir herauszuquetschen«, sagte ich. »Ich wüsste nur gern, ob sich dein Wunsch erfüllt hat. Und ob du ihn – was immer du dir gewünscht hast – später bereut hast. Hast du jemals gedacht, du hättest dir lieber etwas anderes wünschen sollen?«
    »Die erste Frage könnte ich sowohl mit Ja und als auch mit Nein beantworten. Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich ja noch ein Weilchen leben, und es lässt sich nicht voraussagen, wie sich alles noch entwickeln wird.«
    »Dein Wunsch braucht also Zeit?«
    »Ja«, sagte sie. »Die Zeit spielt dabei eine wichtige Rolle.«
    »Wie bei manchen Kochrezepten?«
    Sie nickte.
    Ich dachte einen Moment lang darüber nach, doch mir kam nichts weiter als eine riesige Pastete in den Sinn, die bei niedriger Hitze langsam im Ofen gart.
    »Und was sagst du auf meine zweite Frage?«, fragte ich.
    »Wie lautete die noch mal?«
    »Ob du deinen Wunsch je bereut hast.«
    Eine Weile herrschte Schweigen. Sie sah mich unverwandt und ohne jede Tiefe an. Der Schatten eines müden Lächelns umspielte ihre Mundwinkel und vermittelte mir den Eindruck von stummer Resignation.
    »Ich bin inzwischen verheiratet«, sagte sie, »mit einem staatlich vereidigten Rechnungsprüfer, der drei Jahre älter ist als ich, und habe zwei Kinder. Einen Jungen und ein Mädchen. Und einen irischen Setter. Ich fahre einen Audi und treffe mich einmal wöchentlich mit Freundinnen zum Tennis. So sieht jetzt mein Leben aus.«
    »Hört sich gar nicht so übel an«, sagte ich.
    »Auch wenn die Stoßstange vom Audi zwei Dellen hat?«
    »Stoßstangen sind für Dellen da.«
    »Das wäre ein toller Aufkleber«, sagte sie. »›Stoßstangen sind für Dellen da‹.«
    Ich beobachtete ihre Mundwinkel.
    »Was ich meine, ist«, sagte sie in nachdenklicherem Ton und kratzte sich am Ohrläppchen – sie hat sehr hübsch geformte Ohrläppchen –, »dass ein Mensch, auch wenn ihm alle Wünsche erfüllt werden, nie mehr werden kann, als er ist. Das ist alles.«
    »Das ergäbe auch einen guten Aufkleber«, sagte ich. ›Ein Mensch wird nie mehr, als er ist.‹«
    Sie lachte laut, sichtlich vergnügt, und der Schatten war plötzlich verschwunden.
    Die Ellbogen auf die Theke gestützt, sah sie mich an. »Was hättest du dir denn an meiner Stelle gewünscht?«
    »Am Abend meines zwanzigsten Geburtstags?«
    »Ja«, sagte sie.
    Ich überlegte ziemlich lange, aber kein einziger Wunsch fiel mir ein.
    »Mir fällt nichts ein«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Ich bin von meinem zwanzigsten Geburtstag schon zu weit entfernt.«
    »Wirklich überhaupt nichts?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Rein gar nichts?«
    »Gar nichts.«
    Sie sah mir wieder in die Augen. Es war ein sehr direkter Blick. »Bestimmt hast du deinen Wunsch schon getan«, sagte sie.
    »Aber denken Sie gut nach, denn Sie haben nur einen Wunsch frei.« Irgendwo in der Dunkelheit hob ein zierlicher alter Herr mit einer Krawatte in der Farbe von welkem Laub den Finger. »Nur einen. Sie können ihn nicht mehr zurücknehmen, auch wenn Sie es sich später anders überlegen.«

Das New Yorker Grubenunglück
    Ein Mann, den ich kenne, ein Freund von mir, hat seit zehn Jahren die recht sonderbare Gewohnheit, in den Zoo zu gehen, sooft ein Taifun oder heftige Regenfälle sich ankündigen. Er wohnt etwa fünfzehn Minuten zu Fuß vom Zoo entfernt.
    Wenn ein Taifun sich nähert und die meisten Menschen hastig ihre Läden schließen, noch einmal losrennen, um Mineralwasser zu kaufen, und ihr Transistorradio und ihre Taschenlampe

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