Blinde Weide, Schlafende Frau
Fräulein?«
»Vielen Dank, aber ich muss noch arbeiten.«
»Ein Schlückchen kann nichts schaden. Wenn ich es Ihnen erlaube, wird Sie deswegen niemand tadeln. Kommen Sie, nur einen Schluck, zur Feier des Tages.«
Der Alte zog den Korken aus der Flasche und goss für sie ein wenig in das Weinglas. Dann holte er aus einer Vitrine ein Wasserglas und schenkte sich selbst ein.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte er. »Möge ein erfolgreiches, erfülltes Leben vor Ihnen liegen, und möge niemals ein dunkler Schatten darauf fallen.« Sie stießen an.
Möge niemals ein dunkler Schatten darauf fallen , wiederholte sie die Worte des Alten in Gedanken. Warum hatte er ausgerechnet diesen ungewöhnlichen Wunsch ausgesprochen?
»Zwanzig wird man nur einmal im Leben. Es ist ein einmaliger Tag, mein Fräulein.«
»Ja«, erwiderte sie und nippte vorsichtig an ihrem Wein.
»Und an diesem ganz besonderen Tag bringen Sie mir das Abendessen wie eine gute Fee.«
»Ich tue nur, was man mir gesagt hat.«
»Trotzdem«, sagte der alte Herr und schüttelte ein paar Mal kurz den Kopf. »Trotzdem, mein schönes Fräulein.«
Der alte Mann setzte sich auf den Lederstuhl vor dem Schreibtisch und bat sie, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Das Weinglas in der Hand, ließ sie sich behutsam nieder. Sie presste die Knie zusammen, zupfte an ihrem Rocksaum und räusperte sich zum x-ten Mal. Sie sah zu, wie die Regentropfen auf der Fensterscheibe ihre Linien zogen. Es war seltsam ruhig im Raum.
»Zufällig ist heute Ihr zwanzigster Geburtstag, und Sie bringen mir auch noch diese schöne warme Mahlzeit«, wiederholte er, wie um sich zu vergewissern. Geräuschvoll stellte er sein Glas auf dem Schreibtisch ab. »Das muss doch eine besondere Fügung sein. Glauben Sie nicht?«
Sie nickte ohne Überzeugung.
»Also«, sagte er und betastete den Knoten seiner laubfarbenen Krawatte. »Ich möchte Ihnen ein Geburtstagsgeschenk machen. Ein so besonderer Tag wie der zwanzigste Geburtstag bedarf eines besonderen Andenkens.«
Verlegen schüttelte sie den Kopf. »Bitte machen Sie sich keine Gedanken. Ich habe Ihnen doch nur das Essen nach oben gebracht, wie es mir aufgetragen wurde.«
Der Alte hob die Hände, indem er ihr beide Handflächen zukehrte. »Nein, nein. Sie sind diejenige, die sich jetzt mal keine Gedanken macht. Mein Geschenk hat keine konkrete Form und auch keinen Preis.« Er legte die Hände auf den Schreibtisch und holte langsam und tief Luft. »Also, ich möchte einer schönen Fee wie Ihnen einen Wunsch gewähren. Was auch immer Sie sich wünschen, ich werde es Ihnen erfüllen. Natürlich nur, falls Sie überhaupt einen Wunsch haben.«
»Einen Wunsch?« Ihre Kehle war wie ausgetrocknet.
»Ja, etwas, das Ihrem Wunsch gemäß eintreten soll. Sie haben einen Wunsch frei. Das ist mein Geburtstagsgeschenk an Sie. Aber denken Sie gut nach, denn es ist nur einer.« Er hob einen Finger. »Sie können ihn nicht mehr zurücknehmen, auch wenn Sie es sich später anders überlegen.«
Ihr fehlten die Worte. Ein Wunsch? Vom Wind gepeitscht, prasselte der Regen stoßweise gegen die Scheiben. Während sie schwieg, schaute der alte Herr ihr wortlos in die Augen. In ihren Ohren tickte die Zeit mit unregelmäßigem Pulsschlag.
»Ich habe einen beliebigen Wunsch frei?«
Der Alte antwortete nicht. Er lächelte nur, beide Hände auf den Schreibtisch gelegt. Es war ein sehr natürliches, liebenswertes Lächeln.
»Haben Sie nun einen Wunsch, mein Fräulein, oder nicht?«, sagte er mit sanfter Stimme.
Sie sah mich an. »Das ist wirklich passiert. Ich habe es mir nicht ausgedacht.«
»Natürlich nicht«, sagte ich. Geschichten zu erfinden lag nicht in ihrem Wesen. »Und hast du dir damals etwas gewünscht?«
Wieder blickte sie mir eine Weile ins Gesicht. Dann seufzte sie leise. »Ich habe den Alten damals selbst nicht ganz ernst genommen. Schließlich glaubt man mit zwanzig ja nicht mehr an Märchen. Aber wenn er sich einen spontanen Scherz mit mir erlaubte, war er ganz schön raffiniert, und hinter einem so eleganten alten Herrn wie ihm wollte ich nicht zurückstehen. Immerhin war es mein zwanzigster Geburtstag, da sollte einem schon etwas Außergewöhnliches zustoßen, fand ich. Mir ging es eher darum als um die Frage, ob ich ihm glaubte oder nicht.«
Wortlos nickte ich.
»Verstehst du, was ich meine? Mein zwanzigster Geburtstag neigte sich sang- und klanglos dem Ende zu, während ich Tortellini mit Sardellensoße servierte und kein Mensch
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