Blinde Weide, Schlafende Frau
Luft. Es war nicht zu sehen, aber die Tiere spürten es . Und ich spürte, was die Tiere spürten. Letztlich reicht der Boden, auf dem wir gehen, bis in den Kern der Erde, und dieser Kern saugt unglaubliche Mengen an Zeit auf.«
Ich schwieg.
»Ein zweites Mal mache ich das nicht. Ich meine, nachts in den Zoo gehen.«
»Taifune sind wohl besser?«
Er nickte. »Viel besser.«
Das Telefon läutete. Er ging ins Schlafzimmer und nahm ab. Es war ein endlos langer Klonanruf von einer seiner Klonfreundinnen. Ich wollte ihm sagen, dass ich nach Hause ginge, aber er kam ewig nicht zurück. Ergeben schaltete ich den Fernseher ein. Es war ein 27-Zoll-Farbfernsehgerät mit einer Fernbedienung, die man nur zu berühren brauchte, um lautlos auf einen anderen Sender umzuschalten. Dank der sechs Lautsprecher war der Ton hervorragend. Ich hatte noch nie einen so fantastischen Fernsehapparat gesehen.
Nachdem ich zweimal alle Sender durchgezappt hatte, entschied ich mich für eine Nachrichtensendung. Ein Grenzkrieg, ein Gebäudebrand, steigende und fallende Kurse, eine neue Importbeschränkung für Kraftwagen, winterliches Schwimmertreffen im Freien, ein Familienselbstmord. Alle diese Ereignisse schienen irgendwie zusammenzuhängen, wie die Leute auf einem Klassenfoto aus der Mittelstufe.
»Irgendwelche interessanten Neuigkeiten?«, fragte mich mein Freund, als er zurückkam.
»Eigentlich nicht.«
»Siehst du viel fern?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Fernseher.«
»Ein Fernseher hat zumindest etwas Gutes«, sagte er nach einigem Nachdenken. »Man kann ihn ausschalten, wann man will. Und keiner meckert.«
Er nahm die Fernbedienung und schaltete ab. Augenblicklich war das Bild verschwunden. Im Zimmer wurde es sehr still. Allmählich gingen in den Gebäuden vor dem Fenster die Lichter an.
Fünf Minuten lang tranken wir unseren Whiskey, ohne zu sprechen. Abermals klingelte das Telefon, aber er tat, als hörte er es nicht. Als es aufhörte, schaltete er plötzlich den Fernseher wieder ein. Augenblicklich kehrte das Bild zurück, und ein Sprecher stand vor einer Grafik und erläuterte mittels eines Zeigestocks die neusten Schwankungen der Ölpreise.
»Siehst du? Der Mann hat nicht mal gemerkt, dass wir ihn für fünf Minuten abgeschaltet hatten.«
»Stimmt«, sagte ich.
»Wieso nicht?«
Ich war zu faul, darüber nachzudenken, und schüttelte nur den Kopf.
»Wenn man abschaltet, hört eine Seite auf zu existieren. Der Mann oder wir. Man drückt ganz leicht aufs Knöpfchen, und die Kommunikation fällt aus. So einfach ist das.«
»Auch eine Denkweise«, sagte ich.
»Es gibt Hunderttausende von Denkweisen. In Indien wachsen Kokospalmen. In Venezuela regnet es aus Hubschraubern politische Gefangene.« Er schaltete den Apparat ab. »Nichts gegen Leute, die beerdigt werden«, sagte er, »aber es gibt Tode auf der Welt, die nicht mit Beerdigungen erledigt sind. Tode, die man nicht riechen kann.«
Ich nickte schweigend. Ich hatte das Gefühl zu verstehen, was er sagen wollte, und dann auch wieder das Gefühl, gar nichts zu verstehen. Ich war müde und einigermaßen durcheinander. Eine Weile fuhr ich mit dem Finger über die grünen Blätter des Weihnachtssterns.
»Ich habe noch eine Flasche Champagner«, sagte er mit ernster Miene. »Habe ich von meiner letzten Geschäftsreise nach Frankreich mitgebracht. Ich verstehe zwar nichts von Champagner, aber dieser soll sehr gut sein. Wollen wir ihn zusammen trinken? Champagner ist bestimmt das Richtige nach diesen vielen Beerdigungen.«
»Willst du ihn nicht lieber am Weihnachtsabend mit einer Freundin trinken?«, fragte ich.
Er holte den eisgekühlten Champagner und zwei frische Gläser und stellte alles ruhig auf den Tisch. Dann lächelte er kühl.
»Champagner ist völlig nutzlos. Das einzig Gute daran ist der knallende Korken.«
»Aha«, sagte ich beeindruckt.
Wir ließen den Korken knallen und unterhielten uns eine Weile über den Zoo in Paris und die Tiere dort. Der Champagner war wirklich ausgezeichnet.
*
Am Ende dieses Jahres fand, wie immer zu Silvester, eine kleine Party in einer Bar in Roppongi statt, die eigens dafür angemietet wurde. Ein Klaviertrio trat auf, und es gab gut zu essen und zu trinken. Wenn ich einen Bekannten traf, plauderte ich eine Weile mit ihm. Aus einem bestimmten Grund (mein Beruf erforderte es) ging ich jedes Jahr hin. Ich bin kein großer Freund von Partys, aber diese Treffen waren recht angenehm. An Silvester hatte ich ohnehin
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