Blinde Weide, Schlafende Frau
Sorge. Sie werden bestimmt ein langes Leben haben. Das sagt mir meine Intuition.«
»Danke«, sagte ich.
Die Kapelle begann »Auld Lang Syne« zu spielen.
»Es ist fünf Minuten vor zwölf«, sagte sie, nach einem Blick auf die goldene Uhr, die sie als Anhänger um den Hals trug. »Ich liebe Auld Lang Syne. Und Sie?«
»Ich mag ›Home on the Range‹ lieber. Weil Hirsche und Antilopen darin vorkommen.«
Sie lächelte wieder. »Bestimmt mögen Sie Tiere.«
»Das stimmt«, sagte ich und dachte an meinen Freund, der so gerne in den Zoo geht, und an seinen Beerdigungsanzug.
»Es war nett, mit Ihnen zu plaudern. Leben Sie wohl«, sagte sie.
»Leben Sie wohl«, erwiderte ich.
*
Sie bliesen ihre Grubenlampen aus, um Luft zu sparen, und Dunkelheit umgab sie. Niemand sagte etwas. Nur alle fünf Sekunden hörten sie im Finstern Wassertropfen von der Decke fallen .
»Atmet alle so flach wie möglich, die Luft wird knapp«, mahnte ein alter Bergmann. Seine Stimme war nur ein Flüstern, aber dennoch knackten die Balken der Tunneldecke. Die Bergleute rückten in der Dunkelheit zusammen, lauschten angestrengt, warteten auf einen einzigen Laut. Auf das Geräusch von Spitzhacken, das Geräusch des Lebens.
Stundenlang warteten sie. Die Wirklichkeit löste sich allmählich in Dunkel auf. Es fühlte sich an, als wäre alles vor langer Zeit in einer fernen Welt geschehen. Oder geschah es in der Zukunft, in einer anderen fernen Welt?
Atmet alle so flach wie möglich, die Luft wird knapp.
Draußen wurde natürlich unablässig ein Loch zu ihnen gegraben. Es war wie in einer Szene aus einem Film.
Das Flugzeug
oder Wie er mit sich selbst sprach, als würde er ein Gedicht aufsagen
An diesem Nachmittag fragte sie ihn: »Hattest du diese Angewohnheit, mit dir selbst zu reden, eigentlich schon früher?« Ruhig schaute sie vom Tisch auf, als wäre ihr die Frage gerade erst in den Sinn gekommen. Ihm war jedoch klar, dass sie wahrscheinlich schon länger darüber nachdachte. Wie immer in solchen Fällen klang ihre Stimme ein wenig hart und trocken. Sie hatte die Worte, bevor sie sie aus dem Mund ließ, immer wieder zaudernd auf der Zunge hin- und herbewegt.
Sie saßen einander gegenüber am Küchentisch. Abgesehen von den auf einem nahen Streckenabschnitt vorbeiratternden Zügen war das Viertel sehr ruhig. Manchmal zu ruhig. Von Gleisen, auf denen kein Zug fährt, geht eine merkwürdige Stille aus. Die Kunststofffliesen des Küchenbodens fühlten sich unter seinen bloßen Füßen angenehm kühl an. Er hatte seine Strümpfe ausgezogen und in die Hosentaschen gestopft. Für einen Nachmittag im April war es etwas zu warm. Sie hatte die Ärmel ihres hellen karierten Hemdes bis zu den Ellbogen aufgerollt und spielte mit dem Stiel ihres Kaffeelöffels. Er starrte auf die Spitzen ihrer schlanken weißen Finger. Dabei wurde sein Bewusstsein seltsam flach. Es schien, als hätte sie den Rand der Welt angehoben und würde sie nun zerpflücken – ungerührt, mechanisch, als müsste sie es in jedem Fall tun, ganz gleich wie lange es dauern würde.
Wortlos beobachtete er sie. Er schwieg, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. Der Rest Kaffee in seiner Tasse war kalt und sah schlammig aus.
Er war gerade zwanzig geworden. Sie war sieben Jahre älter als er, verheiratet und Mutter eines Kindes. Mit anderen Worten, sie war ihm so fern wie die Rückseite des Mondes. Ihr Mann arbeitete für eine Reiseagentur, die auf Studienreisen ins Ausland spezialisiert war, und war deswegen die Hälfte des Monats nicht zu Hause, sondern in London, Rom oder Singapur. Er war wohl Opernfan, denn in den Regalen in ihrer Wohnung standen, nach Komponisten sortiert, dicke Alben mit jeweils drei oder vier Platten von Verdi, Puccini, Donizetti oder Richard Strauß. Sie wirkten nicht wie eine Plattensammlung, eher wie das Symbol für eine Weltsicht: ruhig und sehr gefestigt. Wenn ihm die Worte fehlten oder er nicht wusste, was er tun sollte, ließ er seinen Blick über die Schrift auf den Plattenrücken wandern. Von rechts nach links, von links nach rechts. Dabei las er sich im Geiste die einzelnen Titel vor: La Bohème, Tosca, Turandot, Norma, Fidelio … Er hatte solche Musik noch nie gehört. Er hatte nie die Gelegenheit dazu gehabt, geschweige denn, dass er wusste, ob sie ihm gefiel oder nicht. In seiner Familie und unter seinen Freunden oder Bekannten gab es nicht einen einzigen Opernliebhaber. Er wusste, dass auf der Welt eine Musik namens Oper existierte
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