Blinde Weide, Schlafende Frau
und dass Leute sie hörten, aber zum ersten Mal erhaschte er wirklich einen Blick auf diese Welt.
Sie machte sich nicht viel aus Opern.
»Sie sind mir nicht gerade zuwider«, sagte sie. »Nur zu lang.«
Neben dem Plattenregal stand eine prachtvolle Stereoanlage. Der schwere Verstärker hockte behäbig da wie ein gut dressiertes Krustentier, das auf Anweisungen wartet. Durch ihre außergewöhnliche Präsenz fiel die Anlage zwischen den anderen etwas bescheideneren Möbeln unweigerlich ins Auge. Allerdings hatte er nie etwas darauf gehört. Sie wusste nicht einmal, wie man die Anlage einschaltete, und er wäre nie auf die Idee gekommen, sie zu berühren.
Sie hätten keinerlei Familienprobleme, wiederholte sie ihm unablässig. Ihr Mann sei nett und umgänglich und liebe auch das Kind sehr.
»Ich glaube, ich bin glücklich«, sagte sie in einem heiteren, zufriedenen Ton. Und es klang nicht einmal so, als redete sie es sich nur ein. Sie sprach so distanziert über ihr Eheleben, als ginge es um Verkehrsregeln oder die Datumsgrenze. »Ich bin glücklich, wir haben keine nennenswerten Probleme.«
Er fragte sich, warum sie dann mit ihm schlief. Er dachte viel darüber nach, kam aber zu keinem Ergebnis. Ihm war schon unklar, was man sich konkret unter Eheproblemen vorzustellen hatte, und er nahm sich vor, sie darauf anzusprechen, wusste aber nicht, wie. »Warum schläfst du mit mir, wenn du so glücklich bist?«, konnte er doch nicht fragen. Dann würde sie sicher anfangen zu weinen.
Sie weinte ohnehin ziemlich oft. Leise und sehr lange. Meist verstand er nicht, warum sie weinte. Aber wenn sie einmal angefangen hatte, hörte sie so schnell nicht wieder auf. Ungeachtet seiner Tröstungsversuche hörte sie immer erst auf, wenn eine bestimmte Zeit vergangen war. Unternahm er gar nichts, versiegten ihre Tränen von selbst, wenn diese Zeit um war. Warum waren die Menschen nur so verschieden? Er war schon mit mehreren Frauen zusammen gewesen. Alle hatten irgendwann geweint oder waren wütend gewesen, aber ihr Weinen, ihr Lachen und ihr Zorn waren immer anders gewesen. Es gab Ähnlichkeiten, aber die Unterschiede überwogen bei weitem. Auch das Alter schien dabei keine Rolle zu spielen. Er hatte zum ersten Mal etwas mit einer Frau, die älter war als er, doch der Altersunterschied störte ihn weniger, als er geglaubt hatte. Viel bedeutsamer fand er die unterschiedlichen Neigungen, die einzelne Menschen hegen. Darin schien ihm ein wichtiger Schlüssel zum Rätsel des Lebens zu liegen.
Wenn sie aufhörte zu weinen, schliefen sie meist miteinander. Nur dann ging die Initiative dazu von ihr aus, sonst musste er den Anfang machen. Zuweilen wies sie ihn zurück, indem sie wortlos den Kopf schüttelte. Dabei wirkten ihre Augen wie weiße Monde, die in der Morgendämmerung am Rande des Firmaments schwebten. Verführerische, flache Monde, die beim ersten Vogelruf in der Dämmerung erbebten. Wenn er diese Augen sah, gab es für ihn nichts mehr zu sagen. Ihre Zurückweisung machte ihn weder wütend noch verstimmte sie ihn. Er akzeptierte sie einfach. Manchmal war er insgeheim sogar erleichtert. Sie setzten sich an den Küchentisch, tranken Kaffee und unterhielten sich leise und beiläufig. Meist hatten ihre Gespräche etwas Bruchstückhaftes. Beide waren sie nicht sehr gesprächig, und gemeinsame Themen hatten sie auch kaum. Im Nachhinein wusste er nie mehr, worüber sie gesprochen hatten, nur dass es unzusammenhängend gewesen war und dass immer wieder Züge vor dem Fenster vorbeigefahren waren.
Ihre körperlichen Berührungen waren stets ruhig und verhalten. Sie empfanden keine fleischliche Lust im eigentlichen Sinne des Wortes. Andererseits konnte man auch nicht behaupten, dass ihnen die Freuden der geschlechtlichen Vereinigung von Mann und Frau völlig entgingen; nur waren zu viele andere Gedanken, Elemente und Lebensweisen damit vermengt. Sex mit ihr war anders, als er ihn jemals erlebt hatte. Er erinnerte ihn an ein kleines Zimmer, an ein ordentliches, hübsches, gemütliches Zimmer. Und von der Decke hingen bunte Schnüre verschiedener Struktur und Länge. Jede einzelne erschien ihm verführerisch, ließ ihn erbeben. Er wünschte sich, an ihnen zu ziehen, und die Schnüre warteten darauf, dass er an ihnen zog. Doch er wusste nicht, an welcher. Er hatte das Gefühl, wenn er an einer zöge, würde sich vor seinen Augen jäh eine herrliche Landschaft entfalten; oder aber, alles ginge im selben Moment zunichte. Und daher zögerte
Weitere Kostenlose Bücher