Blinde Weide, Schlafende Frau
er, dass ihre Beziehung sich veränderte. Stillschweigend begann die Realität, sich zwischen sie zu schieben.
Die Veränderung war nicht auffällig und nicht offenkundig; paradoxerweise schien das Problem eher in einem Mangel an Veränderung zu bestehen. Nichts an ihr – ihre Art zu reden, ihre Kleidung, die Gesprächsthemen, die sie aufwarf, ihre Meinung dazu – hatte sich verändert; aber er hatte nicht mehr wie früher das Gefühl, mit ihrer Welt zu verschmelzen. Etwas war anders. Es war, als ob sich alles wiederholte, dabei jedoch allmählich an Schwung verlor. An sich war das nicht schlecht. Aber er konnte keine Richtung ausmachen.
Vielleicht habe ich mich verändert, dachte er.
Sein Leben in Tokyo war einsam. Auch an der Uni fand er keine Freunde. Die Stadt war schmutzig und das Essen schlecht, die Sprache der Leute ordinär. Zumindest fand er das. Also dachte er unablässig an Yoshiko. Abends verkroch er sich in seinem Zimmer und schrieb ihr Briefe. Sie schrieb auch zurück, seltener allerdings. Dann schilderte sie ihm in allen Einzelheiten ihr Leben, und er las ihre Briefe wieder und wieder. Ohne ihre Briefe würde er verrückt, glaubte er. Er fing an zu rauchen und zu trinken. Manchmal schwänzte er sogar seine Vorlesungen.
Aber als er nun in den lang ersehnten Sommerferien nach Kobe zurückkam, war er enttäuscht. Obwohl er nur drei Monate fort gewesen war, kam ihm alles staubig und leblos vor. Etwas Sterbenslangweiligeres als die Gespräche mit seiner Mutter konnte es nicht geben. Auch die Landschaft, nach der er sich in Tokyo so gesehnt hatte, empfand er jetzt als trübselig. Kobe war eigentlich nicht mehr als ein selbstzufriedenes Provinzkaff. Es war ihm zuwider, mit jemandem zu reden, und es deprimierte ihn sogar, den Friseur aufzusuchen, der ihm seit seiner Kindheit die Haare schnitt. Der Strand, an dem er täglich den Hund ausführte, erschien ihm verlassen und voller Müll.
Auch seine Verabredungen mit Yoshiko begeisterten ihn nicht. Wenn er danach nach Hause kam, grübelte er. Was lief da schief? Natürlich liebte er sie noch immer. Seine Gefühle hatten sich nicht im Geringsten geändert. Aber das genügte nicht. Ich muss etwas unternehmen, dachte er. Leidenschaft verstärkt sich eine Zeit lang selbst, aber nicht ewig. Wenn ich jetzt nichts unternehme, wird unsere Beziehung irgendwann schal und unsere Leidenschaft erstickt.
Eines Tages beschloss er das seit langem ausgesparte Thema Sex noch einmal anzusprechen. Zum letzten Mal.
»In den drei Monaten, die ich allein in Tokyo war, habe ich unentwegt an dich gedacht«, sagte er. »Ich liebe dich sehr. Es macht keinen Unterschied, ob wir getrennt sind oder nicht. Aber durch die lange Trennung kommen beunruhigende, düstere Gedanken in mir auf. Wenn man einsam ist, wird man schwach. Vielleicht kannst du das nicht verstehen, aber ich war noch nie in meinem Leben so allein. Das war sehr schwer für mich. Deshalb möchte ich, dass uns etwas eindeutig verbindet. Ich möchte die Gewissheit, dass wir zusammengehören, auch wenn ich weit fort bin.«
Doch seine Freundin schüttelte wieder einmal den Kopf, seufzte und küsste ihn, sehr sanft.
»Es tut mir leid, aber ich kann dir meine Jungfräulichkeit nicht geben. Das sind zwei verschiedene Dinge. Ich würde alles für dich tun, nur das nicht. Wenn du mich liebst, sprich nicht mehr davon. Bitte!«
Dennoch sprach er noch einmal vom Heiraten.
»Es gibt in meinem Kurs Mädchen, die schon verlobt sind«, sagte sie. »Allerdings nur zwei. Aber ihre Verlobten haben schon eine Stelle, das muss nun einmal sein. Ehe bedeutet Verantwortung. Man wird unabhängig und bezieht den anderen in sein Leben ein. Wenn man keine Verantwortung übernimmt, kann man nichts erreichen.«
»Ich kann durchaus Verantwortung übernehmen«, erklärte er. »Ich gehe auf eine gute Universität und bringe gute Leistungen. Nenn mir irgendeine Firma und irgendeinen Posten, ich kann ihn kriegen. Ich kann alles schaffen, wenn ich nur will. Wo liegt also das Problem?«
Sie schloss die Augen und ließ sich in den Autositz zurücksinken. Eine Zeit lang schwieg sie. »Ich habe Angst«, sagte sie schließlich. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte. »Ich habe wirklich Angst. Ich komme nicht dagegen an. Angst vor dem Leben. Angst zu leben. Ich habe Angst, weil ich in ein paar Jahren in die Wirklichkeit hinaus muss. Warum verstehst du das nicht? Wieso kannst du mich nicht verstehen? Warum quälst du mich so?« Er nahm sie in
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