Blinde Weide, Schlafende Frau
Restaurant zu essen wird lästig; man ertappt sich dabei, dass man unentwegt auf die Uhr schaut, weil ein Zug unendlich lange nicht kommt; und man mag sich nicht mehr in einer fremden Sprache verständlich machen.
Darum waren wir beide erleichtert, als wir uns über den Weg liefen. Genau wie damals in der Fahrschule. Wir setzten uns an einen Tisch am Kamin, bestellten eine teure Flasche Rotwein und aßen eine Vorspeise mit Pilzen, Pasta mit Pilzen und Arrosto mit Pilzen.
Er war nach Lucca gekommen, um Möbel zu kaufen, denn er hatte inzwischen eine Firma, die Möbel aus Europa importierte. Natürlich war er erfolgreich. Er prahlte nicht und spielte sich nicht auf (als er mir seine Visitenkarte gab, sagte er nur, er habe eine kleine Firma), aber man sah ihm seinen Erfolg auf den ersten Blick an. An seiner Kleidung, seiner Art zu reden, seiner Mimik, seiner Haltung, eben an seiner ganzen Art. Auf angenehme Weise fühlte er sich in seinem Erfolg vollkommen zu Hause.
Er habe alle meine Romane gelesen, sagte er. »Vielleicht denken wir über manches verschieden, aber ich finde es wundervoll, dass jemand anderen Menschen etwas erzählen kann.«
Kein Einspruch. »Solange man gut erzählen kann«, sagte ich.
Am Anfang sprachen wir nur über Italien. Die Unpünktlichkeit der Züge und die langen Wartezeiten in den Restaurants. Aber dann, ich weiß nicht mehr, wie es kam, begann er mir bei der zweiten Flasche Wein seine Geschichte zu erzählen. Und ich hörte unter gelegentlichen Aufmerksamkeitsbekundungen zu. Ich vermute, er wollte sie schon länger einmal jemandem erzählen, es hatte sich nur niemand gefunden. Hätten wir nicht in dieser kleinen italienischen Stadt in diesem angenehmen Restaurant gesessen, wäre der Wein kein süffiger 83er Coltibuono gewesen und hätte das Kaminfeuer nicht gebrannt, hätte er sie sicher nicht erzählt.
Aber er erzählte sie.
»Ich habe mich immer für einen langweiligen Menschen gehalten«, sagte er. »Selbst als ganz kleines Kind war ich nie übermütig. Ich blieb sozusagen immer im Rahmen und achtete darauf, ihn nicht zu verlassen. Ich wich nie von der vorgegebenen Spur ab. Wie auf einer gut beschilderten Autobahn: rechte Spur einhalten, Vorsicht Kurve, Überholen verboten. Ich brauchte nur den Anweisungen zu folgen, und alles ging glatt. Alle lobten mich, alle bewunderten mich. Als ich noch klein war, dachte ich, alle anderen würden es genauso machen. Erst mit der Zeit begriff ich, dass dem nicht so war.«
Er hielt sein Weinglas vor das Feuer und schaute eine Weile hindurch.
»Entsprechend reibungslos verlief mein Leben, zumindest der erste Teil. Ich hatte keine größeren Probleme, nur hinter den Sinn meines Lebens kam ich nicht. Je älter ich wurde, desto stärker empfand ich diese vage Verunsicherung. Ich wusste nicht, wonach ich im Leben suchte. Ich war gut in Mathe, in Englisch, in Sport, einfach in allem. Meine Eltern lobten mich, und meine Lehrer waren zufrieden mit mir. Ich würde es auf eine gute Universität schaffen. Ich selbst hatte keine Ahnung, wohin ich unterwegs war oder was ich machen wollte. Welches Fach sollte ich studieren? Jura, Ingenieurwesen oder Medizin? Wahrscheinlich wäre ich in allem gut gewesen, aber nichts zog mich an. Also schrieb ich mich auf Anraten meiner Eltern und Lehrer auf der Universität von Tokyo für Jura ein. Es steckte kein leitendes Prinzip dahinter, nur meinten alle, das sei das Vorteilhafteste.«
Er nahm einen Schluck Wein.
»Erinnerst du dich noch an die Freundin, die ich an der Oberschule hatte?«
»Sie hieß Fujisawa, oder?« Plötzlich war mir ihr Name wieder eingefallen. Ich war mir zwar nicht ganz sicher, aber ich hatte es getroffen.
Er nickte. »Genau, Yoshiko Fujisawa. Ihr ging es ähnlich wie mir. Ich mochte sie sehr gern. Mit ihr konnte ich über so vieles reden, ihr alles sagen, was ich auf dem Herzen hatte, und sie verstand mich. Uns ging der Gesprächsstoff nie aus, und das war wirklich wunderbar. Bevor ich ihr begegnet bin, hatte ich nie einen Freund gehabt, mit dem ich ernsthaft reden konnte.«
Yoshiko Fujisawa und er waren Seelenverwandte. Ihre familiären Umstände stimmten auf schon unheimliche Weise überein. Sie sahen beide gut aus, waren gut in der Schule und Führernaturen. Die Superstars ihrer Klasse. Sie stammten aus gut situierten Familien, und ihre Eltern verstanden sich nicht. Ihre Mütter waren etwas älter, die Väter hatten Geliebte und mieden das häusliche Leben, ließen sich aber »wegen der
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