Blinde Weide, Schlafende Frau
Leute« nicht scheiden. Zu Hause führten die Mütter das Regiment und erwarteten ganz selbstverständlich, dass ihre Kinder in allem die Besten waren. Yoshiko und er waren zwar beliebt, hatten aber keine richtigen Freunde; sie wussten nicht warum. Vielleicht wählen normale, unvollkommene Menschen sich andere unvollkommene Menschen zu Freunden. Jedenfalls fühlten sie sich beide immer ein bisschen einsam und nie ganz entspannt.
Doch eines Tages freundeten sie sich an. Sie öffneten einander ihre Herzen und waren bald ein Paar. Sie aßen gemeinsam zu Mittag und fuhren gemeinsam nach Hause. In jeder freien Minute steckten sie die Köpfe zusammen und redeten. Gesprächsstoff hatten sie bergeweise. Sonntags lernten sie zusammen. Am wohlsten fühlten sie sich, wenn sie nur zu zweit waren. Jeder kannte die Gefühle des anderen wie seine eigenen. Unermüdlich redeten sie, über die Einsamkeit, die sie zuvor erlebt hatten, über ihre Verlustgefühle, über ihre Unsicherheit und ihre Träume.
Einmal in der Woche machten sie Petting. Meist in einem ihrer Zimmer. Da bei beiden fast nie jemand zu Hause war (die Väter waren ohnehin abwesend, und die Mütter hatten ständig irgendwelche Einkäufe und Erledigungen zu tätigen), war das ganz einfach. Sie machten es sich zur Regel, sich nicht auszuziehen, und benutzten nur ihre Finger. So rieben sie sich zehn, fünfzehn Minuten heftig aneinander und setzten sich anschließend wieder an den Schreibtisch, um zu lernen.
»Jetzt reicht es«, sagte sie dann und strich ihren Rock glatt. »Wollen wir jetzt ein bisschen lernen?« Da sie ungefähr die gleichen Noten hatten, machten sie sich das Lernen zum Spiel, wetteiferten zum Beispiel darum, wer eine Mathematikaufgabe am schnellsten lösen konnte. Das Lernen war ihnen nie eine Last, es war ihre zweite Natur. Es machte ihnen unheimlich viel Spaß. »Du findest das vielleicht blöd«, sagte er. »Aber es machte uns wirklich Spaß. Wahrscheinlich können das nur Leute wie wir verstehen.«
Dennoch war er mit ihrer Beziehung nicht ganz glücklich. Etwas fehlte; er wollte mit ihr schlafen. Er wünschte sich richtigen Sex. »Körperlich eins zu sein«, wie er sich ausdrückte. Er brauchte das. »Ich glaubte, wenn wir einmal so weit gegangen wären, würden wir uns noch näher sein, uns noch besser verstehen.« Für ihn war dies eine vollkommen natürliche Entwicklung.
Sie hingegen sah das anders und schüttelte mit zusammengepressten Lippen energisch den Kopf.
»Ich habe dich sehr gern«, sagte sie sachlich. »Aber ich will bis zu meiner Hochzeit Jungfrau bleiben.« Und all seine Überredungsversuche stießen auf taube Ohren.
»Ich liebe dich wirklich. Aber das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Ich habe das so für mich entschieden. Es tut mir leid, aber ich bleibe dabei. Bitte! Wenn du mich wirklich gern hast, kannst du das ertragen.«
»Was blieb mir übrig, als ihre Entscheidung zu respektieren«, fuhr er fort. »So etwas ist eine Frage der Lebenseinstellung, und das kann man nicht beurteilen. Für mich hätte es keine große Rolle gespielt, ob meine Partnerin Jungfrau war oder nicht. Schon damals dachte ich, dass es mir nicht sonderlich viel ausmachen würde, wenn die Frau, die ich einmal heiraten würde, keine Jungfrau mehr wäre. Ich bin weder ein sehr radikaler Mensch noch ein verträumter Romantiker, aber ein Konservativer bin ich auch nicht. Ich bin nur Realist. Ob Jungfrau oder nicht, das war für mich nicht wichtig. Viel wichtiger fand ich, dass ein Mann und eine Frau sich verstehen. Aber das war nur meine Meinung, und die würde ich nie einem anderen aufzwingen. Sie hatte eben ihre Lebensvorstellung, also musste ich mich damit zufrieden geben, sie unter ihren Kleidern zu berühren. Du weißt wahrscheinlich, wie das war.«
O ja, ich konnte mich noch gut daran erinnern.
Er wurde ein bisschen rot und lächelte.
»Es war eigentlich gar nicht so übel. Aber da wir immer an einem bestimmten Punkt aufhörten, war ich nie entspannt. Aus meiner Sicht war immer mittendrin Schluss. Dabei wollte ich doch nur eins mit ihr sein, ohne dass etwas zwischen uns war. Ich wollte besitzen und besessen werden. Ich brauchte ein Zeichen. Natürlich war auch Begehren im Spiel, aber nicht nur. Wonach ich mich vor allem sehnte, war das Gefühl physischer Verschmelzung. Das hatte ich noch nie erfahren. Immer war ich allein gewesen, immer in diesen Rahmen gepresst. Ich wollte mich befreien, um mein wahres Selbst zu finden, von dem ich bis dahin
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