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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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tief.
    »Ein kleiner Nachtspaziergang?«, fragte er.
    »Ich konnte nicht schlafen«, sagte ich.
    Er musterte mich von oben bis unten, und ein leichtes Lächeln trat auf seine Lippen. »Genau wie ich«, sagte er. »Setzen Sie sich doch, wenn Sie mögen.«
    Ich zögerte einen Moment, nickte und ging hinüber an seinen Tisch, zog einen der Plastikgartenstühle heran und setzte mich. Dann schaute ich in die gleiche Richtung wie er. Am Ende des Strandes lagen zerklüftete niedrige Felsbrocken umher wie halbierte Muffins. Kleine Wellen umspülten sie in regelmäßigen Abständen. Hübsche kleine Wellen, immer gleich groß, wie mit dem Zollstock abgemessen, aber ganz und gar unspektakulär.
    »Ich habe Sie heute gar nicht am Strand gesehen«, sagte ich.
    »Wir waren heute den ganzen Tag auf dem Zimmer«, sagte er dann. »Meiner Mutter ging es nicht gut.«
    »Oh, das tut mir leid.«
    »Es ist nichts Körperliches. Eher ein nervlich bedingtes Unwohlsein.« Er rieb sich mit dem rechten Mittelfinger die Wange. Trotz der späten Stunde war sein Gesicht glatt wie Porzellan, nicht die Spur von einem Stoppelbart.
    »Aber es geht ihr schon besser. Sie schläft jetzt fest. Anders als bei meinen Beinen hilft in ihrem Fall eine ordentliche Nachtruhe. Natürlich ist sie danach nicht völlig geheilt, aber einigermaßen wiederhergestellt. Morgen früh geht es ihr wieder gut.«
    Er schwieg zwanzig oder dreißig Sekunden, vielleicht sogar eine Minute lang. Ich stellte die Beine unter dem Tisch nebeneinander und überlegte, ob dies nicht der Moment war, um mich zu verabschieden. Es war, als ginge es in meinem Leben nur darum, den richtigen Zeitpunkt für den Absprung nicht zu verpassen. Aber natürlich versäumte ich ihn wieder, denn bevor ich den Mund aufmachen konnte, nahm der Mann das Gespräch wieder auf.
    »Es gibt alle möglichen nervösen Störungen. Selbst wenn sie die gleiche Ursache haben, können die Symptome völlig verschieden sein. Genau wie bei Erdbeben. Die zugrunde liegende Energie ist dieselbe, aber die Folgen sind von Ort zu Ort unterschiedlich. Eine Insel versinkt, eine andere entsteht.«
    Er gähnte. Es war ein langes, förmliches Gähnen, fast elegant. Er entschuldigte sich dafür.
    Er sah sehr erschöpft aus, sein Blick verschwamm, als werde er gleich einschlafen. Ich wollte auf meine Uhr schauen und merkte, dass ich sie gar nicht trug. An ihrer Stelle war nur ein Streifen weißer Haut. Es sei vielleicht besser, wenn er sich jetzt hinlegen würde, sagte ich zu ihm.
    »Nein, nein, machen Sie sich um mich keine Sorgen«, sagte er. »Ich sehe vielleicht müde aus, aber ich bin es nicht. Vier Stunden Schlaf am Tag genügen mir, und die schlafe ich für gewöhnlich gegen Morgen. Um diese Zeit sitze ich meistens hier herum.«
    Er nahm den Cinzano-Aschenbecher von seinem Tisch und betrachtete ihn, als wäre er ein ausgesprochen interessanter Gegenstand.
    »Wenn meine Mutter einen ihrer nervösen Zustände hat, wird ihre linke Gesichtshälfte von einer Lähmung befallen. Sie kann dann weder den Mund und noch das Auge bewegen, und ihr Gesicht sieht aus wie eine gesprungene Vase. Es ist seltsam, aber nicht lebensbedrohlich. Wenn sie eine Nacht geschlafen hat, ist mit ihr alles wieder in Ordnung.«
    Da mir dazu nichts einfiel, nickte ich nur unverbindlich. Wie eine gesprungene Vase?
    »Sagen Sie meiner Mutter bitte nicht, dass ich Ihnen davon erzählt habe. Sie hasst es, wenn über ihre Krankheit gesprochen wird.«
    »Natürlich nicht«, sagte ich. »Außerdem reisen wir ohnehin morgen früh ab, und ich werde sicher keine Gelegenheit mehr haben, mit ihr zu sprechen.«
    »Das ist sehr schade«, sagte er, als finde er das wirklich.
    »Ja, sehr, aber ich muss wieder arbeiten«, sagte ich.
    »Woher kommen Sie denn?«
    »Aus Tokyo.«
    »Tokyo«, wiederholte er. Er kniff die Augen zusammen und starrte hinaus auf den Ozean, als könnte er, wenn er genau hinschaute, jenseits des Horizonts die Lichter von Tokyo erkennen.
    »Bleiben Sie noch lange hier?«, fragte ich.
    »Schwer zu sagen«, erwiderte er und fuhr mit der Hand über den Greifreifen seines Rollstuhls. »Vielleicht noch ein, zwei Monate. Kommt darauf an. Ich entscheide das nicht. Dem Mann meiner Schwester gehören Anteile an diesem Hotel, deshalb können wir hier sehr billig wohnen. Mein Vater besitzt in Cleveland eine Firma, die Fliesen herstellt. Mein Schwager hat sie so gut wie übernommen. Ehrlich gesagt, ich mag ihn nicht besonders, aber man kann sich seine Verwandtschaft

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