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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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jetzt gehen. Dann sprang ich ins Wasser und schwamm los. Als ich mich auf halbem Weg noch einmal umdrehte, winkte mir die Frau zu. Ich winkte kurz zurück. Von weitem sah sie fast aus wie ein Delphin. Es fehlten ihr nur noch Flossen, und sie hätte zurück ins Meer springen können.
    Dann schlief ich eine Weile auf dem Zimmer, und um sechs gingen wir wie immer zum Abendessen in den Speisesaal. Doch Mutter und Sohn waren nicht da. Als wir in unser Zimmer zurückgingen, war ihre Tür geschlossen. Durch die kleine Milchglasscheibe drang Licht, aber ich konnte nicht beurteilen, ob das Zimmer noch bewohnt war.
    »Ob die beiden schon abgereist sind?«, fragte ich meine Frau. »Sie waren nicht am Strand und auch nicht beim Essen.«
    »Wer weiß? Jeder muss früher oder später mal abreisen«, sagte sie. »So kann man ja nicht für immer leben.«
    »Da hast du Recht«, sagte ich. Dennoch konnte ich mir Mutter und Sohn an keinem anderen Ort vorstellen.
    Wir fingen an zu packen. Als unsere Koffer abreisebereit am Fußende des Bettes standen, wirkte der Raum plötzlich kalt und fremd. Unser Urlaub ging eindeutig seinem Ende entgegen.

    Als ich aufwachte, warf ich einen Blick auf den Reisewecker an meinem Kopfende. Das grün fluoreszierende Zifferblatt zeigte ein Uhr zwanzig. Mein Herz klopfte heftig. Ich stieg aus dem Bett, setzte mich mit gekreuzten Beinen und geradem Rücken auf den Teppich und atmete tief ein und aus. Ich lockerte die Schultern und konzentrierte mich auf meinen Nabel. Wahrscheinlich hatte ich mich beim Schwimmen überanstrengt oder zu viel Sonne abgekriegt. Ich stand auf und sah mich um. Am Fußende des Bettes standen, verstohlen lauernd wie zwei Tiere, unsere Koffer.
    Bleiches Mondlicht fiel durch das Fenster. Meine Frau schlief. Ihre Atmung war nicht zu hören, als wäre sie tot. Sie schläft oft so tief und lautlos. Als wir frisch verheiratet waren, hatte mich das geängstigt; manchmal hatte ich befürchtet, sie sei womöglich wirklich tot. Ich zog meinen verschwitzten Schlafanzug aus und suchte mir ein frisches T-Shirt und saubere Shorts. Dann nahm ich eine Miniflasche Wild Turkey, die auf dem Tisch stand, öffnete leise, um meine Frau nicht zu wecken, die Tür und schlich mich ins Freie. Die Nachtluft war kühl, und die Erde verströmte den Geruch feuchter Pflanzen. Der Vollmond tauchte die Welt in ein seltsames Licht, wie man es am Tage nie sieht. Es schien, als würde ich die Welt durch einen speziellen Farbfilter betrachten, der einiges bunter erscheinen ließ, als es war, anderes wiederum leichenhaft leblos und blass.
    Ich war überhaupt nicht müde. Mein Verstand war hellwach und klar, als hätte es so etwas wie Schlaf nie gegeben. Es war still, kein Wind, keine Insekten, nicht einmal der Ruf eines Nachtvogels war zu hören. Nur wenn ich angestrengt lauschte, drang das leise Rauschen der Wellen an meine Ohren.
    Ich schlenderte einmal um unser Cottage herum und überquerte dann schräg den Rasen, der wie ein runder zugefrorener Teich im Mondlicht schimmerte. Ich trat vorsichtig auf, um die Eisdecke nicht zu beschädigen. Auf der anderen Seite stieg ich eine kleine Treppe hinauf und gelangte zu der tropisch eingerichteten Bar, in der ich jeden Abend Wodka Tonic getrunken hatte. Um diese Stunde hatte sie natürlich bereits geschlossen. Die Rollos waren heruntergelassen, und die ordentlich zusammengefalteten Sonnenschirme an den Tischen wirkten wie schlafende Flugsaurier.
    Dort saß allein der junge Mann im Rollstuhl. Er hatte den Ellbogen auf einen der Tische gestützt und schaute aufs Meer. Von weitem und im Mondlicht wirkte sein Rollstuhl wie ein Präzisionswerkzeug aus Metall, eigens gefertigt für die tiefsten und dunkelsten Stunden der Nacht.
    Ich hatte ihn noch nie allein gesehen. In meinem Kopf waren er und seine Mutter immer eine Einheit gewesen – er in seinem Stuhl, sie, die ihn schob. Es war ein seltsames Gefühl, ihn allein zu sehen, und ich kam mir fast indiskret vor. Er trug ein orangefarbenes Hawaiihemd, das ich schon an ihm gesehen hatte, und eine weiße Baumwollhose. Reglos blickte er aufs Meer.
    Unsicher, wie ich mich verhalten sollte, blieb ich stehen. Doch ehe ich mich entscheiden konnte, spürte er meine Gegenwart und drehte sich um. Wie üblich nickte er mir ganz kurz zu.
    »Guten Abend«, sagte ich.
    »Guten Abend«, erwiderte er leise. Es war das erste Mal, dass ich seine Stimme hörte. Sie klang ein bisschen schläfrig, aber sonst völlig normal. Weder zu hoch noch zu

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