Blinde Weide, Schlafende Frau
Unwillkürlich stieg ich nach rechts den vertrauten Berghang hinauf. Dort gab es keine hohen Bäume, und nur kniehohes, dorniges Gestrüpp wucherte im Schatten der Felsen. Je weiter ich ging, desto klarer und lauter kam mir die Musik vor. Auch die Melodie konnte ich nun besser ausmachen; sie klang festlich und übermütig. Ich vermutete, dass es in dem Dorf auf dem Hügel etwas zu feiern gab. Dann fiel es mir plötzlich ein: Ja, genau, eine Hochzeit. Wir hatten an diesem Tag am Hafen einen fröhlichen Hochzeitszug gesehen. Wahrscheinlich dauerten die Festlichkeiten bis in die Nacht.
Dann war ich plötzlich verschwunden.
Vielleicht lag es am Mondlicht. Oder an der mitternächtlichen Musik. Bei jedem Schritt schien sich mein Ich tiefer im Treibsand seiner selbst zu verlieren, genau wie damals, als wir über Ägypten flogen. Das Ich, das durch das Mondlicht schritt, war nicht ich. Es war nicht mein wahres Ich, sondern ein tönernes, provisorisches Ich. Langsam fuhr ich mir mit den Handflächen übers Gesicht, aber das war nicht mein Gesicht, und die Hände waren nicht meine Hände. Mein Herz hämmerte und pumpte das Blut mit irrwitziger Geschwindigkeit durch meinen Körper. Ich war wie eine Tonfigur, der ein westindischer Zauberer flüchtig Leben eingehaucht hatte. Der wahre Lebensfunke fehlte. Meine Bewegungen wurden von Muskelattrappen erzeugt. Ich war eine kümmerliche Marionette, die zu irgendeinem Opfer dienen sollte.
Aber wo war mein wahres Ich?
Dein wahres Ich wurde von den Katzen gefressen , antwortete Izumis Stimme von irgendwoher. Während du hier stehst, haben die Katzen dein wahres Ich aufgefressen. Ganz sauber, bis auf die Knochen abgenagt .
Ich sah mich um. Natürlich hatte ich mir die Stimme nur eingebildet. Um mich herum waren nur der mit Steinen übersäte Boden, das niedrige Gestrüpp und die kurzen Schatten, die es warf. Die Stimme war in meinem Kopf entstanden. Wieder dachte ich an den Pistolenlauf. Und an die Kälte der Mündung. Ich stellte mir vor, wie ich sie mir in den Mund steckte und abdrückte. Auch die schrecklich stille Dunkelheit, die mich einen Augenblick danach umfangen würde, stellte ich mir vor.
Hör auf, morbides Zeug zu denken, befahl ich mir. Wie um einer großen Welle auszuweichen, umklammerte ich einen Felsen auf dem Meeresgrund und hielt den Atem an; so würde die Welle irgendwann über mich hinweggehen. Du bist nur müde, und deine Nerven sind angespannt. Halte dich an die Realität. Halte dich an etwas Realem fest, egal an was. Ich steckte die Hände in die Hosentaschen und schloss sie um die Münzen darin. Sie waren sofort nass von meinem Schweiß.
Krampfhaft versuchte ich, an etwas anderes zu denken. An meine schöne sonnige Wohnung in Unoki. An meine Plattensammlung, die ich dort zurückgelassen hatte. Ich hatte eine ziemlich gute Sammlung von Jazzplatten; spezialisiert hatte ich mich auf weiße Pianisten der fünfziger und sechziger Jahre. Ohne Mühen und Kosten zu scheuen, hatte ich die wichtigsten Alben von Pianisten wie Lenny Tristano, Al Haig, Claude Williamson, Lou Levy, Russ Freeman und André Previn zusammengetragen. Da die meisten davon nicht mehr lieferbar waren, hatte es mich einiges an Zeit und Geld gekostet, sie zusammenzutragen. Unermüdlich hatte ich in Plattenläden gestöbert, mit anderen Sammlern getauscht und allmählich mein Archiv vergrößert. Die meisten Aufnahmen konnte man kaum als erstklassig bezeichnen, aber ich liebte die besondere, intime Atmosphäre, die diese alten, verstaubten Platten verströmten. Schließlich wäre eine Welt, in der es nur Erstklassiges gäbe, doch ziemlich reizlos, oder? Bis ins Detail erinnerte ich mich an die Hülle jeder einzelnen Platte, wie sie sich anfühlte, an ihr Gewicht in meiner Hand.
Doch nun waren sie für immer verschwunden. Und ich selbst hatte sie aus meinem Leben getilgt. Nie wieder würde ich sie hören.
Ich erinnerte mich an den Geruch nach Tabak, wenn ich Izumi küsste. Wie sich ihre Lippen und ihre Zunge anfühlten. Ich schloss die Augen. Ich wollte sie an meiner Seite haben. Ich wollte, dass sie mir die Hand hielt wie damals im Flugzeug über Ägypten.
Als die große Welle endlich über mich hinweggebrandet war, verstummte auch ganz plötzlich die Musik. Die Stille lastete so tief auf der Landschaft, dass meine Trommelfelle schmerzten. Ausdruckslos ergoss sich das Mondlicht über die Erdoberfläche. Ich stand allein auf dem Hügel. Das Meer, der Hafen, der dunkle Ort und der Mond waren zu
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