Blinde Weide, Schlafende Frau
Liebe. Ich glaubte, die Melodie schon irgendwo gehört zu haben, war mir jedoch nicht sicher. Vielleicht hatte sie nur Ähnlichkeit mit einer anderen. Geistesabwesend hörte ich zu und spürte, wie meine bloßen Arme das Sonnenlicht aufsaugten – lautlos, sehr sanft und ruhig. Hin und wieder streckte ich sie vor mir aus. Der Sommer war da.
Ich habe keine Ahnung, warum sich ausgerechnet an diesem Sonntagnachmittag der Gedanke an eine arme Tante in meinem Herzen festsetzte. In meiner Umgebung gab es keine arme Tante, ja nicht einmal etwas , das die Vorstellung von der Existenz einer armen Tante hätte auslösen können. Nichtsdestoweniger tauchte sie kurz auf und verschwand. Sie nahm, wenn auch nur für Bruchteile einer Sekunde, von meinem Herz Besitz und hinterließ dort eine seltsame, leere Stelle von Menschengestalt. Es war, wie wenn jemand vorbeigeht und dann nicht mehr zu sehen ist. Man rennt ans Fenster und steckt den Kopf hinaus, aber da ist schon niemand mehr.
Eine arme Tante?
Nachdem ich mich umgeschaut hatte, sah ich nach oben in den sommerlichen Himmel. Sie war da gewesen und wieder verschwunden. Die Worte waren wie die unsichtbare Flugbahn einer Gewehrkugel vom frühen Sonntagnachmittag verschluckt worden. So sind Anfänge immer: Für einen Augenblick ist alles da, im nächsten ist alles wieder verschwunden.
»Ich möchte etwas über eine arme Tante schreiben«, sagte ich zu meiner Begleiterin. Ich bin ein Mensch, der versucht, Geschichten zu schreiben.
»Über eine arme Tante?« Sie wirkte ein wenig überrascht und musterte mich forschend. »Warum? Warum über eine arme Tante?«
Warum und wieso wusste ich selbst nicht. Aus irgendeinem Grund waren die Dinge, die mich packten, immer solche, die ich nicht verstand.
Eine Zeit lang schwiegen wir. Währenddessen fuhr ich mit dem Finger die Leere von Menschengestalt nach, die in mir zurückgeblieben war.
»Wer will denn so was lesen?«, sagte sie.
»Wahrscheinlich wirklich keine besonders faszinierende Lektüre«, gab ich zu.
»Warum willst du dann über so was schreiben?«
»Ich kann’s nicht richtig ausdrücken«, sagte ich. »Um zu erklären, warum ich über eine arme Tante schreiben möchte, müsste ich die Geschichte erst schreiben. Und wenn ich sie geschrieben habe, gäbe es keinen Grund mehr zu erklären, warum ich sie schreiben will, oder?«
Sie lächelte wortlos, zog eine verkrumpelte Zigarette aus der Tasche und zündete sie sich an. Immer verkrumpelte sie ihre Zigaretten, manchmal so sehr, dass sie sich nicht mehr anzünden ließen. Aber diesmal klappte es.
»Gibt es in deiner Verwandtschaft überhaupt eine arme Tante?«, fragte sie.
»Nein.«
»Aber in meiner. Eine echte arme Tante. Ich habe sogar ein paar Jahre mit ihr zusammengelebt.«
Ich sah ihr in die Augen; ihr Blick war wie immer völlig gelassen. »Aber ich will nichts über diese Tante schreiben«, sagte sie. »Nicht ein Wort.«
Aus dem Transistorradio ertönte ein neuer Song. Die Melodie ähnelte der davor, aber diesmal war sie mir trotzdem völlig neu.
»Du hast keine einzige arme Tante«, fuhr sie fort, »möchtest aber etwas über eine arme Tante schreiben. Ich habe wirklich eine arme Tante, will aber nichts über sie schreiben. Findest du das nicht ein bisschen merkwürdig?«
Ich nickte. »Wie das wohl kommt?«
Sie neigte den Kopf ganz leicht zur Seite und antwortete nicht. Mit dem Rücken zu mir saß sie da und ließ ihre schlanken Finger durchs Wasser gleiten. Mir war, als würde meine Frage durch ihre Fingerspitzen geleitet und von den Ruinen auf dem Grund des Gewässers geschluckt. Ich zweifle nicht daran, dass mein Fragezeichen noch immer auf dem Grund glitzert wie ein poliertes Stück Metall. Und vielleicht bedrängt es die umliegenden Coladosen mit der gleichen Frage.
Wie das wohl kommt? Wie das wohl kommt? Wie das wohl kommt?
Sie ließ die Asche ihrer zerdrückten Zigarette auf den Boden fallen.
»Ehrlich gesagt, es gibt da vieles, das ich gern über meine arme Tante sagen würde, aber ich finde nicht die richtigen Worte dafür. Ich würde mir die Zähne daran ausbeißen. Eben weil ich eine echte arme Tante kenne.« Sie biss sich auf die Lippe. »Das ist nämlich hart – viel härter, als du dir anscheinend vorstellen kannst.«
Wieder schaute ich zu den bronzenen Einhörnern hinüber. Trotzig stemmten sie ihre Vorderhufe dem Fluss der Zeit entgegen, die sie irgendwann hinter sich gelassen hatte.
Meine Gefährtin trocknete sich die Finger am Saum
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