Blinde Weide, Schlafende Frau
sehen. Noch immer war keine Wolke am Himmel. Die Szenerie hatte sich nicht verändert. Nur die Musik war nicht mehr zu hören.
Hatten die Musiker aufgehört zu spielen? Das war durchaus möglich; schließlich war es bald ein Uhr. Oder hatte es die Musik vielleicht nie gegeben? Auch das war möglich. Ich traute meinem Gehör nicht mehr. Ich schloss die Augen und ließ mein Bewusstsein abermals in meinen Körper hinabtauchen, ließ bedächtig ein Lot in sein Dunkel hinab. Aber ich hörte nichts. Nicht einmal ein Echo.
Ich wollte auf die Uhr sehen, aber ich hatte sie nicht an. Seufzend steckte ich die Hände in die Taschen. Eigentlich brauchte ich die Uhrzeit auch gar nicht zu wissen. Ich blickte zum Himmel auf. Der Mond war eine kalte Steinkugel, deren Haut die Zeit zerfressen hatte. Die Schatten auf seiner Oberfläche waren wie Krebsgeschwüre, die ihre unheilvollen Fühler ausstrecken. Das Mondlicht verzerrt die Töne, spielt der Wahrnehmung Streiche und lässt Katzen verschwinden. Es hatte Izumi zum Verschwinden gebracht. Vielleicht gehorchte alles einer ausgefeilten Choreographie, schon seit jenem lang vergangenen Abend.
Ich streckte mich, bog die Arme und die Hände. Sollte ich weitergehen oder umkehren? Wo war Izumi nur hingegangen? Wie sollte ich ohne sie auf dieser gottverlassenen Insel weiterleben? Nur sie hielt mein brüchiges, provisorisches Ich zusammen.
Ich stieg weiter bergan. Wenn ich schon so weit gegangen war, konnte ich auch bis zum Gipfel weitergehen. War dort wirklich Musik erklungen? Ich musste es selbst feststellen, auch wenn ich nur noch auf vage Hinweise stoßen würde. Nach weiteren fünf Minuten war ich auf der Höhe angelangt. Nach Süden hin fiel der Berg zum Meer, zum Hafen und der schlafenden Stadt hin ab. An der Küstenstraße funkelten ein paar Lichter. Die andere Seite des Bergs war in Dunkel gehüllt. Nicht das Mindeste deutete darauf hin, dass dort vor kurzem noch ein lebhaftes Fest stattgefunden hatte.
Ich kehrte zu unserer Hütte zurück und trank ein Glas Schnaps. Ich versuchte einzuschlafen, aber es gelang mir nicht. Bis der Himmel im Osten hell wurde, hatte der Mond mich in seinem Bann. Auf einmal sah ich die ausgehungerten Katzen vor mir, die in einer verschlossenen Wohnung eingesperrt waren. Ich – mein wahres Ich – war tot und sie lebten, fraßen von meinem Fleisch, bissen mir ins Herz, tranken mein Blut, verschlangen meinen Penis. In weiter Ferne hörte ich sie mein Gehirn ausschlürfen. Wie die Hexen aus Macbeth standen die drei geschmeidigen Katzen um meinen geborstenen Schädel und schlürften die zähe Suppe darin. Ihre rauen Zungenspitzen leckten die weichen Falten meines Bewusstseins aus. Und mit jedem Zungenschlag flackerte mein Bewusstsein kurz auf und erlosch wieder.
Die Geschichte mit der armen Tante
1
Es begann an einem makellos schönen Nachmittag – am ersten Sonntagnachmittag im Juli. In der Ferne schwebten zwei, drei weiße Wölkchen, wie anmutig und gewissenhaft in den Himmel gesetzte Kommata. Die Sonne ergoss ihr Licht ungehindert und nach Herzenslust über die Welt. Im Reich des Juli funkelte selbst ein achtlos auf den Rasen geworfenes silbernes Schokoladenpapier verheißungsvoll wie ein Bergkristall auf dem Grunde eines Sees. Bei genauem Hinsehen war zu erkennen, dass im Licht ein zweites Licht war, wie eine Schachtel in der Schachtel. Dieses Licht im Licht schien aus zahllosen winzigen Blütenpollen zu bestehen – undurchsichtigen, weichen Pollen, die ziellos durch die Luft schwebten und sich langsam zur Erde senkten.
Auf dem Rückweg von unserem Spaziergang machten wir auf dem Platz vor der Gemäldegalerie Halt. Meine Gefährtin und ich setzten uns an den Teich und blickten zu den beiden bronzenen Einhornfiguren auf der anderen Seite hinüber. Endlich war die lange Regenzeit vorüber. Eine frische Sommerbrise strich sacht durch das Laub der Eichen und kräuselte hier und da die Oberfläche des Teiches. Auf gleiche Weise bewegte sich die Zeit, stand still, bewegte sich, stand still. Auf dem Grund des klaren Teichs lagen ein paar Coladosen, die mich an die Ruinen einer versunkenen antiken Stadt erinnerten. Ein Baseballteam in identischen Trikots, Kinder auf Fahrrädern, ältere Leute mit Hunden, ein junger Ausländer in Joggingshorts zogen an uns vorbei. Der Wind trug leise einen süßlichen Popsong aus einem großen Transistorradio herüber, das auf dem Rasen stand. Das Lied handelte von Liebe, von verlorener oder fast verlorener
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