Blinde Weide, Schlafende Frau
ihrer Bluse ab und wandte sich mir zu. »Du willst also versuchen, etwas über eine arme Tante zu schreiben«, sagte sie. »Du willst diese Aufgabe übernehmen. Das heißt auch, du willst sie erlösen. Aber ich frage mich, ob du überhaupt dazu in der Lage bist. Wo du doch nicht einmal eine richtige arme Tante hast.«
Ich stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Tut mir leid«, sagte sie.
»Macht doch nichts. Du hast bestimmt Recht«, sagte ich.
Oh nein, ich hatte nicht mal/
eine richtige arme Tante.
Das klang wie ein Klagelied.
2
Vielleicht haben auch Sie keine arme Tante. In diesem Fall hätten wir etwas gemein. Eine seltsame Gemeinsamkeit – wie an einem ruhigen Morgen eine Pfütze zu teilen.
Bestimmt aber haben Sie schon einmal bei jemandes Hochzeit eine arme Tante gesehen. Wie es in jedem Bücherregal ein ungelesenes Buch gibt und in jedem Kleiderschrank ein kaum getragenes Hemd, gibt es auf jeder Hochzeit eine arme Tante.
Sie wird kaum jemandem vorgestellt und von kaum jemandem angesprochen. Man bittet sie auch nicht, eine Rede zu halten. Sie sitzt zwar am Tisch, ist jedoch nur da – wie eine leere Milchflasche. Leise und traurig schlürft sie ihre Consommé, isst den Salat mit der Fischgabel und kann ihre grünen Bohnen nicht schaffen. Und wenn zum Schluss das Eis kommt, ist sie die Einzige, die keinen Dessertlöffel hat. Wenn sie Glück hat, verschwindet ihr Hochzeitsgeschenk nur im Wandschrank, ansonsten wird es beim nächsten Umzug zusammen mit einer eingestaubten Trophäe und anderem Krimskrams fortgeworfen.
Sie ist auch auf den Fotos im Hochzeitsalbum zu sehen, sieht aber so herzerwärmend aus wie eine Wasserleiche.
»Wer ist noch mal die Frau da? In der zweiten Reihe, die mit der Brille …?«
»Ach niemand«, antwortet der junge Ehemann. »Nur eine arme Tante.«
Sie hat keinen Namen. Sie ist nur eine arme Tante. Mehr nicht.
Natürlich verblassen alle Namen irgendwann, so viel ist sicher.
Aber dies geschieht auf unterschiedliche Weise. Zum Beispiel können Namen mit dem Tod der Namensträger verschwinden. Das sind die einfachen Fälle. »Der Fluss ist ausgetrocknet, die Fische starben.« Oder »Im Wald brach Feuer aus, die Vögel verbrannten.« … Wir betrauern ihren Tod. Dann gibt es Namen, die verlöschen wie ein alter Fernsehapparat; erst geht noch ein weißes Flackern über den Bildschirm, bis eines Tages auch das erlischt. Auch das sind keine üblen Fälle: Namen, die sozusagen den Fußstapfen eines indischen Elefanten gleichen, der sich verirrt hat. Nein, gar nicht übel. Und dann gibt es noch die, deren Namen schon vor ihrem Tod verschwinden, und das sind die armen Tanten.
Gelegentlich verfalle ich selbst in diesen arme-Tantenhaften Zustand der Namenlosigkeit. Das passiert mir zum Beispiel im abendlichen Gedränge eines Flughafens. Plötzlich sind mein Ziel, mein Name und meine Adresse aus meinem Kopf verschwunden; nur ganz kurz natürlich, vielleicht für fünf Sekunden.
Oder jemand sagt: »Ich kann mich beim besten Willen nicht an Ihren Namen erinnern.«
»Macht nichts, keine Sorge. Er ist auch nicht von Bedeutung.«
Der andere zeigt immer wieder auf seinen Mund. »Aber ich schwör’s, er liegt mir auf der Zunge.«
Es ist, als wäre ich in die Erde eingegraben und nur mein linker Fuß ragte noch heraus. Jemand stolpert darüber und fängt an, sich zu entschuldigen. »Verzeihen Sie, also wirklich, ich komme gleich drauf …«
Und wohin verschwinden diese abhanden gekommenen Namen? Die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Dickicht einer Stadt überleben, ist äußerst gering. Einige von ihnen werden wohl auf der Straße von riesigen Lastwagen platt gefahren, andere kommen um, weil es ihnen an Kleingeld für die Bahn fehlt, und wieder andere versinken, mit einer Tasche voller Stolz beschwert , im Fluss.
Ein paar haben sicher dennoch überlebt, sind in die Stadt der verlorenen Namen gelangt und haben dort insgeheim eine kleine Gemeinschaft gegründet, ein winziges Städtchen, an dessen Eingang ein Schild stehen müsste:
Unbefugten ist der Zutritt verboten
Die Unbefugten, die dennoch die Stadt betreten, erhalten natürlich eine entsprechend geringfügige Strafe.
Vielleicht war das die geringfügige Strafe, die für mich vorgesehen war: Ich bekam eine kleine arme Tante auf den Rücken gesetzt.
Es war Mitte August, als ich ihre Existenz zum ersten Mal bemerkte. Nicht dass sie sich irgendwie bemerkbar gemacht hätte. Ich spürte es nur plötzlich – dass ich eine arme
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