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Blinde Weide, Schlafende Frau

Titel: Blinde Weide, Schlafende Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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erschien. Als sein Schiff die Mündung des Jangtse hinauffuhr und Shozaburo Takitani die eleganten Boulevards der Stadt in der Morgendämmerung glitzern sah, war es augenblicklich um ihn geschehen. Hell und voller Verheißung strahlten ihm die Lichter Schanghais entgegen. Er war einundzwanzig Jahre alt.

    Die Zeit zwischen dem Ausbruch des japanisch-chinesischen Krieges bis zum Überfall auf Pearl Harbour und dem Abwurf der Atombomben verbrachte Shozaburo Takitani als Posaunist in den Nachtclubs von Schanghai. Der Krieg spielte sich andernorts ab, an irgendwelchen fernen Schauplätzen, die nichts mit ihm zu tun hatten. Shozaburo Takitani war kein Mensch, der zu philosophischen Betrachtungen neigte oder ein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein besaß. Mehr als nach Herzenslust auf seiner Posaune spielen zu können, drei Mahlzeiten am Tag und ein paar Mädchen um sich herum brauchte er nicht zu seinem Glück.
    Die meisten Menschen mochten ihn. Durch seine Jugend, sein gutes Aussehen und die Meisterschaft, mit der er sein Instrument spielte, stach er überall hervor wie ein Rabe im Schnee. Er schlief mit unzähligen Frauen – mit Japanerinnen, Chinesinnen, Russinnen, Prostituierten, Ehefrauen, schönen und weniger schönen Frauen, mit jeder, die er bekommen konnte. Der süße Klang seiner Posaune und sein enormer, überaus reger Penis machten Shozaburo Takitani in Schanghai bald zu einer Berühmtheit.
    Obendrein hatte er eine Begabung, sich »nützliche« Freunde zu machen, ohne es darauf anzulegen, und hatte zahlreiche Gönner unter den höheren Offizieren, den reichen Chinesen und allen möglichen einflussreichen Leuten, die mit zwielichtigen Methoden immense Profite aus dem Krieg schlugen. Viele von ihnen trugen Pistolen unter der Jacke und verließen ein Gebäude nie, ohne mit einem raschen Blick die Straße hinauf und hinunter die Umgebung zu sondieren. Seltsamerweise hatte Shozaburo Takitani stets einen guten Draht zu solchen Leuten, und wenn er Probleme hatte, lösten sie sie gern für ihn. Das Leben war leicht für Shozaburo Takitani in jenen Tagen.
    Allerdings fordert die Gunst des Schicksals auch manchmal ihren Preis, und das Glück schlägt in sein Gegenteil um. Nach Kriegsende erregten seine guten Beziehungen zu fragwürdigen Persönlichkeiten die Aufmerksamkeit der chinesischen Militärs, und sie setzten ihn für lange Zeit hinter Gitter. Seine Leidensgenossen, die wegen ähnlicher Dinge eingesperrt waren, wurden einer nach dem anderen hingerichtet, ohne dass man ihnen einen Prozess machte. Irgendwann schleifte man sie ohne Vorwarnung in den Gefängnishof und schoss ihnen mit einem Automatikgewehr in den Kopf. Sooft eine Hinrichtung stattfand – immer nachmittags um zwei –, peitschte ein harter Knall durch den Hof.
    Shozaburo Takitanis Leben war in höchster Gefahr. Obwohl buchstäblich nur um Haaresbreite vom Tod entfernt, hatte er keine besondere Angst vor dem Sterben. Man bekam eine Kugel durch den Kopf, und das war’s. Im Nu wäre der Schmerz vorbei. ›Eigentlich habe ich bisher genau das Leben geführt, das ich wollte‹, dachte er. ›Ich habe mit unzähligen Frauen geschlafen, gut gegessen und jede Menge Glück gehabt. Jedenfalls habe ich nichts ausgelassen. Auch wenn ich jetzt dran glauben muss, habe ich keinen Grund, mich zu beschweren.‹ Immerhin hatten in diesem Krieg Hunderttausende von Japanern ihr Leben gelassen, viele davon auf weit entsetzlichere Art. Also saß er in seiner Zelle und pfiff, um sich die Zeit zu vertreiben. Tag um Tag sah er durch die Gitterstäbe des winzigen Fensters die Wolken vorüberziehen und ließ auf der fleckigen Wand die Gesichter und Körper der Frauen, mit denen er geschlafen hatte, Revue passieren. Am Ende war Shozaburo Takitani einer von zwei Japanern, die das Gefängnis lebend verließen und nach Japan zurückkehren durften.

    Völlig abgemagert und ohne jede Habe kam er dort im Frühjahr 1946 an. Er erfuhr, dass sein Elternhaus während der schweren Luftangriffe auf Tokyo im März 1945 abgebrannt war und seine Eltern nicht überlebt hatten. Sein einziger Bruder war an der burmesischen Front verschollen. Mit einem Wort, Shozaburo Takitani stand nun völlig allein auf der Welt, was ihm jedoch weder einen großen Schock versetzte noch das Herz brach. Natürlich empfand er eine Art von Verlustgefühl, andererseits aber musste schließlich jeder Mensch von irgendeinem Punkt an seinen Weg alleine gehen. Er war inzwischen dreißig und damit aus dem Alter

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