Blinde Zeugen: Thriller
geblendet hat.«
Gorzkiewicz tastete wieder nach der Wodkaflasche und schenkte nach. »Es wird erzählt, dass vor langer Zeit die reichsten Familien Krakóws Uhrentürme bauten, um aller Welt zu zeigen, wie groß und bedeutend sie waren. Aber immer, wenn eine Familie einen neuen Turm einweihte, ließ jemand anders eine noch schönere Uhr bauen.« Er kippte seinen Wodka. »Und da ließ eines Tages das Oberhaupt des größten Hauses von ganz Kraków den besten Uhrmacher der Welt kommen und trug ihm auf, ihm eine so prächtige Uhr zu machen, dass keine andere ihren Glanz je übertreffen würde. Und der Uhrmacher tat, wie ihm geheißen. Er machte eine Uhr, so wunderschön, dass die Engel zu singen aufhörten, nur um sie schlagen zu hören.«
Er ließ seine Narben wieder hinter der Sonnenbrille verschwinden. »Aber das Oberhaupt der Familie war ein eifersüchtiger Mann. Er wusste, dass die nächste Uhr des Uhrmachers noch schöner sein würde. Und dann wäre seine nicht mehr die schönste im ganzen Land. Also ließ er den alten Mann zu sich kommen und brannte ihm mit einem glühenden Schürhaken die Augen aus. So würde die Uhr seiner Familie für alle Zeiten die beste bleiben.«
Wiktorja schüttelte den Kopf. »Das ist nie passiert.«
»Trotzdem ist es eine gute Geschichte.« Er wandte sich zu Logan. » Deshalb nennen sie mich den Uhrmacher.«
»Nur dass Sie keine Uhren gemacht haben, oder?«
Wieder lächelte er. »Manchmal machen die Dinger, die ich baue, tick-tick … BUMM!« Gorzkiewicz ließ die Faust so heftig auf die Tischplatte krachen, dass die beiden anderen zusammenzuckten. Er lachte. »Jedenfalls erzählen das die Leute.«
»Wer war es? Wer hat Sie geblendet?«
Es war lange still. Dann schob Gorzkiewicz die Finger unter seine Sonnenbrille und rieb sich die Stellen, wo seine Augen gewesen waren.
»Die SB – die Schweine von der Geheimpolizei – sind mitten in der Nacht in mein Haus eingedrungen und haben mich auf einen Lastwagen geworfen. Meine Frau und meine Tochter habe ich nie wiedergesehen. Jemand hat mir erzählt, sie wären davongelaufen. Ein anderer meinte, sie wären nach Warschau geschickt und an so einen skurwysyn vom Politbüro verkauft worden. Und wieder ein anderer sagt, sie hätten sie einfach zum Stahlwerk rausgefahren und erschossen. Meine Frau und meine Tochter, in den Hochöfen verheizt, um noch mehr sowjetischen Stahl zu produzieren …«
Er goss sich noch einen Wodka ein. »Der SB hat mich tagelang verprügelt. Angelogen haben sie mich – haben mir erzählt, meine Kameraden hätten mich verraten, weil ich zu einem Risiko für Solidarno s ´ c ´ geworden wäre – zu gefährlich.« Er lachte – es klang kalt und hart. »Alles Lügen ! Der SB wollte, dass ich mich zu den Bombenanschlägen in Kraków bekenne und ihnen verrate, wer noch daran beteiligt war. Aber ich habe ihnen nichts verraten!«
Gorzkiewicz schauderte. »Dann kam er. Er …« Es war einen Moment still, während der alte Mann auf seinem Stuhl hin und her rutschte. »Er kam mit seinen Messern und Zangen. Und ich habe geredet. Ich habe geschrien wie ein Weib, und ich habe ihm alles gesagt, was er wissen wollte.« Diesmal schwappte der Wodka über den Rand des Glases und sickerte in die rot-weiß karierte Tischdecke. »Dann hat er mir die Augen ausgestochen und die Höhlen ausgebrannt.«
Wiktorja fluchte und legte eine Hand auf die des alten Mannes.
Er schien es nicht zu bemerken. »Zwei Stunden später hat der SB meine Freunde abgeholt. Sie wurden nie mehr gesehen. Und als dieser Dreckskerl mit mir fertig war, hat er mich nach Nowa Huta zurückgefahren und mich auf die Straße geworfen, wo alle mich sehen konnten. Mit einem Schild um den Hals, auf dem ›Kommunistenspitzel‹ stand.« Wieder leerte er sein Glas in einem Zug. »Ich konnte die Leute hören, wie sie schrien und Verwünschungen ausstießen … Sie haben mich an einen Baum gebunden und mich verprügelt, bis alles nur noch Blut und Dunkelheit war. Haben mir beide Beine gebrochen. Den Kiefer. Den Arm. Haben mich zwei Tage dort hängen lassen, ohne Essen und Wasser, bis mein Bruder gekommen ist und mich losgeschnitten hat.«
Logan wich entsetzt zurück. »Du lieber Gott …«
»Es war 1981 in der Volksrepublik Polen. Da gab es keinen Gott, da gab es nur Lenin.« Er leerte die Flasche. »Ich an deren Stelle hätte so einen wie mich ja umgebracht … Aber das wäre vielleicht zu gnädig gewesen.«
»Aber wieso sind Sie dann hiergeblieben?«, fragte
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