Blinde Zeugen: Thriller
Wiktorja. »Warum sind Sie nicht woanders hingegangen, irgendwo ganz weit weg von den Leuten, die Ihnen das angetan haben?«
»Weil Nowa Huta meine Heimat ist. Ich habe für diese Straßen gekämpft, ich habe für sie getötet. Ich wurde für sie geblendet. Es sind meine Straßen. Deshalb bleibe ich hier.«
»Wer war er? Dieser Mann?«
Gorzkiewicz stand auf und humpelte zu dem ratternden Kühlschrank. Als er die Tür aufmachte, wurde die Küche jäh in kaltes weißes Licht getaucht, und dann saßen sie wieder im Halbdunkel. Der alte Mann kam mit einer neuen Flasche Wodka und einem Glas Mixed Pickles an den Tisch zurück. »Es war der Gottseibeiuns. Der König der Unterwelt. Kostchey der Unsterbliche.«
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Wiktorja warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Der Teufel hat Ihnen die Augen ausgestochen?«
Gorzkiewicz zuckte mit den Achseln und schenkte noch drei Schnäpse ein. »So hat er sich damals genannt – Kostchey der Unsterbliche. Aber sein richtiger Name war Wadim Michailowitsch Krawtschenko. Er war Major in der Armee, als ich in Afghanistan war und für dieses Russenpack kämpfen musste. Ich hatte Krawtschenko nie kennengelernt, aber ich hatte von ihm gehört. Jedes Mal, wenn ein Gefangener verhört werden sollte … Die Schreie waren tagelang zu hören.«
Der alte Mann kippte seinen Wodka. »Schließlich landete er beim SB, wo er für die Jagd auf Dissidenten und antikommunistische Sympathisanten zuständig war. Und solche Leute wie ich – Leute, die er geblendet hatte – waren seine Warnung. An uns konnte man sehen, was einem blühte, wenn man sich dem Regime widersetzte.«
»Wo ist er heute?«
»Wenn ich das wüsste, wäre er längst tot. Mir ist einmal ein Gerücht zu Ohren gekommen, wonach er für irgendwelche Gangster in Warschau arbeitete, aber das ist schon viele Jahre her.« Gorzkiewicz fischte ein kleines gelbes Kürbisstückchen aus dem Glas. »Die Ladenbesitzer bei Ihnen in Aberdeen, die werden auch geblendet, ja? Die Augen ausgestochen, die Höhlen ausgebrannt?«
»Wie sieht Krawtschenko aus?«
Der alte Mann schwieg lange. Dann nahm er seine Sonnenbrille ab und ließ Logan noch einmal die wüste Narbenlandschaft sehen, wo seine Augen hätten sein sollen. »Ich habe ihn seit 1981 nicht mehr gesehen, schon vergessen?«
Blöde Frage. »Tut mir leid.«
»Allerdings …« Er schob seinen Stuhl zurück und humpelte zur Tür hinaus. Es war verblüffend, wie souverän er den Hindernisparcours aus Gerümpel bewältigte. Zehn Minuten später kam er mit einer zerfledderten braunen Aktenmappe zurück. Er hielt sie hoch, und Wiktorja nahm sie. »Das«, sagte er, »ist alles, was ich über den Mann weiß. Ich hatte einem russischen Unternehmer einen Gefallen getan – er hatte ein Problem mit einem Konkurrenten, das sich mit sechzehn Pfund Semtex aus der Welt schaffen ließ. Er sorgte dafür, dass Krawtschenkos Akte im Politbüro verlegt wurde. Und er fing an, für mich Fragen zu stellen.«
Wiktorja blätterte die Dokumente im Halbdunkel durch. Plötzlich stieß sie einen Pfiff aus, nahm ein Foto aus der Mappe und zeigte es Logan. »Erkennen Sie ihn wieder?«
Es war eine Schwarzweiß-Porträtaufnahme eines Mannes in Militäruniform, der in die Kamera starrte. Harte Augen. Schiefe Nase. Kurzes, schwarzes Haar. Eine kleine Narbe unten am Kinn.
»Nie gesehen, den Mann.«
Ein summendes Geräusch ertönte vom Flur her, und Gorzkiewicz hob ruckartig den Kopf, als wolle er Witterung aufnehmen. »Warten Sie hier.« Und dann war er wieder verschwunden.
»Eines wüsste ich gerne«, sagte Logan und streckte die Hand nach der Mappe aus, »wie zum Teufel macht ein blinder Mann Bomben?«
»Ganz vorsichtig.«
»Ihr spinnt doch alle.«
Das Krawtschenko-Dossier war nicht allzu umfangreich. Zwanzig oder dreißig A4-Seiten, alles auf Russisch und Polnisch, eine Handvoll verblasster Fotos und eine Haarsträhne. Logan nahm sie heraus und drehte sie im Dämmerlicht. Lang und blond – die gleiche Farbe wie Wiktorjas Haar –, zusammengehalten von einem roten Seidenband.
»Es gehören zu seine Tochter.« Ein junges Mädchen stand in der Küchentür. Sie war vielleicht dreizehn oder vierzehn, viel zu heftig geschminkt, und sie hielt einen eigenartigen mehrstöckigen Kochtopf in den Händen. Ihre Augen waren riesig, die Pupillen in der Dunkelheit so geweitet, dass von der Iris fast nichts mehr zu sehen war. »Haben Sie machen Unordnung in Zimmer von Onkel Rafal? Jetzt ich muss viel lange
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