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Blinder Eifer

Blinder Eifer

Titel: Blinder Eifer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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offensichtlich geweint. Jurys erster Gedanke war »tränenüberströmt«, obwohl er selten Anlaß hatte, das Wort zu benutzen. Annie Landis sah aus, als habe ein schwerer Gegenstand sie mit großer Wucht getroffen. Alles an ihr war schief - der Ausschnitt des Kaschmirpullovers war etwas verrutscht, der Ledergürtel hin schräg nach unten, und von ihrer Schläfe stand eine Locke ihres weichen rötlichen Haars ab wie eine Flamme. Sie sah aus, als kippe sie gleich um, wie aus der Bahn geworfen, wie ein Spiegelbild in einem geteilten Spiegelglas.
    Und Jury zweifelte nicht daran, daß sie sich genauso fühlte.
    Macalvie zückte seinen Ausweis, entschuldigte sich für die Störung, sagte ihr, wer sie seien und was sie wollten. »Wir würden Ihnen gern ein paar Fragen über Helen Hawes stellen. Es dauert nicht lange.«
    Sie schaute Macalvie an, dann Jury. »Nell? Ach, die arme Nell. Kommen Sie herein.«
    Etwas unbeholfen standen die drei im vorderen Wohnzimmer. Die beiden Männer hätten sich auch auf das Sofa oder den Boden setzen können - der Geste nach zu urteilen, mit der Annie Landis in den Raum hinein deutete. Sie hatte immer noch den Stickrahmen in der Hand und zeigte auf zwei mit Cretonne bezogene Sessel, deren große pastellfarbe-ne Rosen zu einfarbigen, verschwommenen Flecken verblaßt waren.
    So sah auch Annie Landis aus, sie mußte einmal eine Haut wie Elfenbein und Rosen und goldenes Haar besessen haben, aber obwohl die Farben noch nachklangen, verschmolzen sie jetzt mit dem blassen Beige ihres Rocks und Pullovers. Doch die Zeit konnte Annie Landis' Aussehen letztlich nichts anhaben, sosehr sie es auch versuchen mochte.
    »Sie haben nicht«, sagte Macalvie und macht mit der Hand eine Trinkbewegung, »zufällig eine Tasse Tee?« Jury hatte noch nie erlebt, daß Macalvie einen Zeugen um etwas gebeten hatte. Bei Wiggins gehörte es dazu, der Sergeant mogelte sich immer heimlich, still und leise in Reichweite von Tee und Scones.
    Annie Landis' Gesicht und Gestalt veränderten sich schlagartig, als glätte sich alles wie durch Zauber und käme sozusagen wieder ins Gleichgewicht. Hatte sie eben noch einen Anblick geboten, als löse sie sich in Wasser auf, erstand nun vor ihnen eine sehr attraktive Frau. »Aber ja, natürlich. Ich habe ja sogar gerade welchen gekocht.«
    Schließlich war sie Engländerin, eine Tasse Tee konnte sie allzeit servieren, und für die Polizei von Devon und Cornwall erst recht - ganz zu schweigen von Scotland Yard. Beinahe munteren Schritts verschwand sie, und während Macalvie leise durch die Zähne pfiff und Jury ignorierte, erklang aus der Küche Geschirrklappern und Gläserklirren. In weniger als zwei Minuten kam Annie Landis mit einem zweistöckigen Teewagen zurück, deckte das Spode-Geschirr und eine blaue Glasplatte mit Petits fours und Keksen auf. Das hatte sie offenbar alles für ihren Sohn vorbereitet.
    »War das Ihr Sohn, der gerade gegangen ist?« fragte Macalvie, als wiederhole er Jurys Gedanken.
    Sie setzte sich und schenkte den Tee ein. »Ja, Jimmy.« Nun lächelte sie sogar ein wenig. Jury konnte sich nichts Beruhigenderes als dieses Ritual vorstellen. Mit einem Dankeschön nahm er eine Tasse mit einer hauchdünnen Zitronenscheibe entgegen.
    Macalvie deponierte seine Tasse behutsam auf der Sessellehne und verzehrte ein Petit four. Dann nahm er sich einen Keks. »Er wohnt bei Ihnen? Jimmy, meine ich.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Schon seit ein paar Jahren nicht mehr. Junge Leute brauchen ihre eigenen vier Wände. Ich finde es nicht gut, wenn sie zu lange bei den Eltern wohnen.« Das sagte sie ohne Bitterkeit und reichte die Kuchenplatte wieder herum.
    Macalvie griff noch einmal zu, nicht ohne zu bemerken, wie lecker alles sei. Macalvie, der sonst nicht mal Zeit für ein »Hallo« oder »Auf Wiedersehen« hatte, machte es sich in seinem Sessel bequem und aß und trank! Jury brachte das Gespräch wieder auf Helen Hawes.
    »Ja, Nell. Wir haben sie immer Nell genannt, nicht Helen.« Sie hielt inne, nahm die Teetasse hoch, als wolle sie trinken, stellte sie statt dessen aber vorsichtig wieder ab und zog den Kaschmirpullover fester um sich, als sei es auf einmal kalt im Zimmer geworden. »Es war so plötzlich.«
    »Soweit wir wissen, war sie herzkrank;«
    »Nein, nein. Ich meine, herzkrank ist ja nun nicht dasselbe wie Herzbeschwerden haben. Jedenfalls hatte sie nichts, das zu diesem Ende hätte führen sollen. Aber dann wiederum ... vielleicht doch.«
    »Was?« fragte

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