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Blinder Eifer

Blinder Eifer

Titel: Blinder Eifer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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nicht Ma-calvie, und er wußte selbst nicht, warum er nun das folgende erzählte.
    »Als Kind bin ich immer mit einer Freundin meiner Mutter einmal in der Woche in einen Park gegangen. Es war solch eine kleine Grünfläche, die von Häuserreihen umgeben ist und zu der nur die Anwohner Zutritt haben. Um hineinzugelangen, brauchte man einen Schlüssel. Sie hatte einen, und damit schloß sie das Tor auf. Ich fand das immer - ich weiß nicht, unglaublich. Wunderbar. Einen Schlüssel zu haben, mit dem man ein Parktor aufschließen konnte.«
    Jimmy hatte aufgehört, mit dem Daumennagel an dem Etikett zu kratzen, seine Augen hingen an Jurys Gesicht. Da der Junge vorher den Kopf immer gesenkt gehalten hatte, fiel Jury erst jetzt auf, daß sie noch dunkler und intensiver grün waren als die seiner Mutter.
    »Die Frau liebte Blumen, aber sie war fast blind. Nicht ganz, aber sie sagte, die Formen verschwäm-men ineinander, wenn sie sie anschaute. Sie konnte zwischen den kleinen Bänken im Park und den Ästen der Bäume, die darüber hingen, nicht unterscheiden, und schon gar nicht zwischen den verschiedenen Blumen in den Beeten dort. Und sie war Malerin gewesen, Aquarellmalerin, eine sehr gute. Sie hieß Amy und war bekannt für ihre Tapferkeit. Nie hörte man sie klagen oder böse werden. Nie sah man sie weinen. Ich konnte nicht glauben, daß das Schicksal einem Menschen so übel mitspielen konnte. Das war ja, als würden einem Pianisten die Finger lahm oder einem Rennläufer die Beine abgeschnitten oder als verlöre eine Sängerin die Stimme.«
    Jury nickte in Richtung der Musikbox. Auch Jimmy schaute hin; sie waren beide wie hypnotisiert von den schwimmenden Farben - wie Öl, das sich mit Wasser vermischt - und der vibrierenden Stimme -immer noch - von Patsy Cline. Wahrhaftig, hier drin mochte jemand Patsy.
    »Als wenn Patsy Cline auf einmal taub würde. Na gut, Amy wollte immer gern, daß ich ihr die Blumen beschrieb, das heißt ihr sagte, welche je nach Jahreszeit blühten, und dann malte sie sie. Es war erstaunlich, sie sahen völlig echt aus. >Die Hand erinnert sich<, sagte sie immer. Doch danach malte sie, was sie noch sehen konnte. Und das wurden Farbkleckse, und die Farben liefen alle ineinander. Und einmal, nur einmal, war sie so frustriert, daß sie Farben und Pinsel hinwarf und ihren Aquarellblock ins Gras schmiß. >O Gott, das ist alles, was ich sehe! Ein Haufen zerlaufener Farben!< Sie weinte, sie schrie beinahe. >Ich will Kanten sehen, Umrisse, aber alles, was ich sehe, sind zerlaufende Farben.< Und da - da explodierte etwas in mir. Ich fing an zu weinen, aber weder aus Mitgefühl noch aus Mitleid. Ich wurde wütend, immer wütender, nicht auf sie, sondern auf das Leben schlechthin. >Ich wünschte, ich würde so sehen wie du!< Da hielt sie inne, wurde ganz ruhig. Sie sah mich an, na ja, so gut sie mich ansehen konnte - ein bißchen schräg, als wenn sie ein bißchen schielte. >Was sehen?< >Farben, die zerlaufen! Aber nein. Ich muß ja alles sehen!< Denn genau das fand ich ja so ungerecht und empörend - ich mußte alles sehen. Harte Kanten und Umrisse. Mittlerweile weinten wir beide, und dann lachten wir. Ich bat sie, es nicht meiner Mutter zu erzählen, ich weiß nicht, warum. Ich redete mir ein, daß ich nicht wollte, daß meine Mutter meinte, ich sei so herzlos gewesen, die arme Amy anzuschreien, ihr das Leben noch schwerer zu machen ... Aber das war nicht der Grund. Den weiß ich übrigens bis heute nicht.«
    Gespannt wie ein Kind hing Jimmy an seinen Lippen. Jury erinnerte sich an den kleinen Park, das dunkle Grün der Bäume im September, die kühlen Farne und das feuchte Moos. Jimmys Augen hatten genau diesen grünen Farbton. Er wollte etwas sagen, unterließ es aber.
    Sie lauschten ein paar Takten von »Crazy«, dann sagte Jury: »Nell Hawes. Wenn Sie sich an irgend etwas erinnern, erzählen Sie es mir.«
    »Meinen Sie über die Reise?«
    »Ja. Alles.«
    »Es ist ein paar Monate her.«
    »Ach, die Erinnerung kommt schon wieder«, schmunzelte Jury.
    »Es gefiel ihr wirklich dort. Im Westen. Nein, es war ja wohl der Südwesten. Colorado, New Mexico ... Santa Fe und - wie hieß noch gleich das andere .?«
    »Was ist mit Santa Fe?« fragte Macalvie, der mit zwei Gläsern und einer Flasche Bier zurückkam. Er setzte sich (im Mantel!) und trank sein Glas halb leer.
    »Ich glaube, es gefiel ihr dort, weil es etwas Mystisches hat. Sie hat mir was von >sich öffnen für andere Energien< und >Auren< und so 'nem

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