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Blinder Eifer

Blinder Eifer

Titel: Blinder Eifer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Hammelbraten hingen nebeneinander unter dem Dach. Enten, Hühnchen und anderes Geflügel baumelten mit dem Hals nach unten von einer Stange. Ein Fleischer mit Melone auf dem Haupt stand in der Tür, ein anderer schärfte hinten im Laden Messer. Wie hätte Mr. Jurvis, der Metzger in Long Piddleton, den maßstabgetreuen Laden samt Ausstattung und Waren bewundert!
    Melrose ging ein paar Schritte zu einer Szene, die mit Mädchen- und Jungenfiguren aufgebaut war. Sie spielten Spiele von früher, Reifenschlagen und Blindekuh. Das Mädchen mit dem Reifen erinnerte ihn an J. M. W. Turners lustiges Bild in der Tate. Hatte er solche Spiele gespielt? Wenn ja, hätte der Künstler die Szene bestimmt gemalt.
    Er lief weiter zu den Bauklötzen, Werkzeug- und alten Stabilbaukästen und konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, daß er dergleichen Dinge als Kind besessen hatte. Stirnrunzelnd ging er zu einer großen Vitrine, die aussah wie aus dem Old Penny Palace in Brighton. Darin befanden sich Holzschafe mit schwarzen Gesichtern, die für zwanzig Pence »Baa Baa Black Sheep« zum besten gaben. Alles schien zwanzig Pence zu kosten, aber er hatte keine Münzen mehr. Jede Wette, solche Münzspielzeuge hatte er massenhaft an den Piers von Brighton oder Liverpool gesehen.
    Meine Güte, er war ja in seinem ganzen Leben noch nicht in Liverpool gewesen. Und nur einmal in Brighton, mit Jury. Aber er mußte doch in den Ferien am Meer gewesen sein. Trotzdem konnte er sich keine einzige Situation ins Gedächtnis rufen, in der er als Kind mit sonnenverbrannten, sandverklebten Beinen mit Eimerchen und Schippchen gespielt hatte. Wer hatte ihm seine Kindheit so verdorben? Er zog die Stirn in tiefe Falten. Er würde Ruthven, den Hüter solcher Erinnerungen, fragen. Der gute, verläßliche Ruthven und auch Martha, seine Frau, mußten, doch noch etwas wissen. Wie alt war Ruthven? Na, einerlei, er schien sich bester Gesundheit zu erfreuen. Aber wie es dann so ist, wenn man seine eigene oder die Sterblichkeit seiner Mitmenschen bedenkt, meint man, man müßte alles auf die Reihe kriegen, bevor sie tot umfallen. Er würde Ruthven sofort fragen, wenn er - Melrose wurde von einer Bewegung hinter sich jäh aus seinen Gedanken gerissen, eine Hand schob eine Münze in den Schlitz, und die hölzernen Schafe begannen ihr Liedchen zu bähen. Bea stand direkt hinter ihm.
    »Na, gefällt's Ihnen?« sagte sie fröhlich. »Wenn Sie wollen, können Sie ruhig mitsingen.«
    Melrose schaute sie genau an, um zu sehen, ob sie es ironisch meinte. Aber dem war nicht so. Trotzdem sagte er nichts.
    »Die Guckkästen gefallen Ihnen bestimmt. Sie sind gleich dort hinten.«
    »Also, ich hatte als Kind schon die Nase voll von Guckkästen«, sagte er beleidigt.
    Sie ließ sich durch den Tonfall nicht beirren. »Haben Sie sie auch immer aus Schuhkartons gebastelt? Wir nämlich. Wir haben kleine Sachen in den Karton gestellt und dann ein Loch in eine Seite gestochen.«
    »Ja, das haben wir auch gemacht. Unsere waren aber richtig schick. Wir hatten maßstabgetreue ... Gegenstände. Wollen wir in dieses Restaurant gehen?«
    Sie wurde noch fröhlicher. »Es ist in der Nähe, von wo ich wohne. Ich wohne in einem von den Hochhäusern, die die Stadt da hingeklotzt hat. Das Restaurant ist französisch. Etepetete?« Das fragte sie, als sei sie unsicher, ob Melrose sich für »etepetete« begeistern konnte. »Nicht billig.«
    Er lächelte. »Geld spielt keine Rolle. Gehen wir.«
    Beas Beschreibung traf zu: ein schickes, kleines Restaurant, vermutlich überteuert - aber etepetete, allemal für Bethnal Green. Den Stadtteil zwischen Shoreditch und Spitalfields, nicht weit entfernt von Stepney und Limehouse, konnte man wohl kaum als wohlhabend bezeichnen. Das Dotrice war vielleicht schon ein Vorbote der Luxussanierung und verhieß die Invasion der Truebloodschen Wochenendmenschen, die den Rest der (Arbeits-)Woche in Bethnal Green verbrachten.
    Wenn es einen Indikator für solche Veränderungen gab, dann ein Restaurant. London liebte seine Restaurants, vielleicht noch mehr als seine West-EndTheater. Zum Essen auszugehen war obligatorisch, und jedes noch so kleine Etablissement, das aus dem Boden sproß, wurde in aller Form zur Kenntnis genommen, besucht und beurteilt. Als Melrose das Äußere des Dotrice betrachtete, machte ihn der Gedanke, wie die alten Pubs sowohl ihr Aussehen als auch ihr Essen aufmotzten, um den Bedürfnissen dieser neuen Klientel gerecht zu werden, ganz traurig.
    Der

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