Blinder Einsatz
ihren trüben Gedanken ab. Als sie nach vier Stunden wieder in den Hafen einliefen, fühlte sie sich angenehm erschöpft und konnte gut einschlafen.
Als sie am Montag nach Paris zurückkehrte, war sie fest entschlossen, sich ernsthaft mit Hugh auszusprechen.
Es war ihr nicht leichtgefallen, zu dieser Entscheidung zu kommen. Nachdem er nun schon mehrere Tage nichts von sich hatte hören lassen, war sie fest entschlossen, ihn ein für alle Mal vor die Wahl zu stellen, auch wenn sie damit riskierte, ihn ganz zu verlieren. Sie fuhr also zur Wohnung, in der Hoffnung, ihn dort anzutreffen. Außerdem wollte sie ein paar Sachen mitnehmen.
Bevor sie die Treppe hinaufging, leerte sie den überquellenden Briefkasten. Es hatte sich so viel Werbung angesammelt, dass man aufpassen musste, nicht einen wichtigen Brief wegzuwerfen. In der Wohnung erwartete sie eine noch viel größere Überraschung. Hughs Schreibtisch war umgestoßen worden, Papiere bedeckten den Boden, und der Tisch im Esszimmer streckte die Beine in die Luft. Constance ging sofort hinunter, um die Concierge zu fragen, die gerade den Treppenaufgang sauber machte. Es war eine Frau von etwa vierzig Jahren, deren rote, rissige Hände zu oft mit Putzmitteln in Kontakt gekommen waren. Constance fragte sie, ob sie Hugh in den letzten Tagen gesehen habe.
»Tja, lassen Sie mich mal überlegen. Letzten Montag am frühen Nachmittag, ja, da hab ich ihn gesehen. Ich wollte mir gerade meine Lieblingssendung im Fernsehen anschauen, da ist er mit ein paar Freunden raufgegangen. Aber die sind nicht lange geblieben.«
»Mit Freunden, sagen Sie?«
»Ja, lauter junge Leute, gut angezogen, und sehr höflich. Wieso?«
»Haben Sie sonst etwas bemerkt? Gab es Lärm oder Streit in der Wohnung, oder hat sich ein Nachbar beschwert?«
»Nein, nicht dass ich wüsste.«
»Haben Sie diese Freunde früher schon mal gesehen?«
»Nein. Nette junge Leute. Wenn nur alle hier im Haus so wären. Also, wenn ich Ihnen mal was sagen soll, erst neulich hat mir doch Françoise erzählt, also das ist eine Arbeitskollegin von früher, also, die hat die Metro genommen, eigentlich fährt sie ja viel lieber mit dem Bus, ich übrigens auch, obwohl mal eine Freundin von mir beim Aussteigen aus dem Bus gestürzt ist, Bein gebrochen, jetzt will sie die Verkehrsgesellschaft verklagen. Also, wie gesagt, Françoise hat mir gesagt, dass ihr morgens im Bus niemand einen Platz angeboten hat …«
Constance versuchte sich zusammenzunehmen, um nicht unhöflich zu erscheinen. Doch die Concierge schien gerade erst in Fahrt zu kommen.
»Was für ein Glück, dass er jemanden wie Sie hat, der junge Mann!«
Constance machte sich von der Frau los und ging wieder in die Wohnung hinauf. Nur im Wohnzimmer war das Unterste zuoberst gekehrt. Die Küche und das Schlafzimmer wirkten zwar nicht gerade aufgeräumt, sahen aber aus wie immer. Hughs Laptop fehlte. Was war geschehen? Ein hoffnungsvoller Gedanke stieg in ihr auf: War das hier herrschende Chaos ein Zeichen dafür, dass er unter ihrem Streit litt? Aber warum rief er sie dann nicht an? Sie wollte ihn unbedingt sehen.
Da ihr die Geschichte mit der Konferenz seltsam vorkam, fuhr sie zur Universität. Unterwegs checkte sie unablässig ihr Handy, ob er nicht angerufen oder ihr eine SMS geschickt hatte. Je mehr Zeit verstrich, desto weniger war ihr klar, was sie ihm eigentlich sagen wollte.
In der Universität suchte sie das Büro auf, das sich Hugh mit einem anderen Doktoranden teilte. Sie spähte durch die offene Tür – niemand da. Sie trat ein, setzte sich an Hughs Schreibtisch und suchte nach einer Notiz über diese Konferenz. Sie fand nichts als ein paar vollgekritzelte Blätter, Fotokopien und Briefe mit Verwaltungskram.
»Hallo, Constance. Na, vertrittst du heute Hugh?«
»Ah! Hallo, Guillaume.«
Peinlich, jetzt war sie dabei erwischt worden, wie sie in Hughs Abwesenheit in seinen Papieren wühlte. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
»Sag mal, Hugh ist doch zu einer Konferenz nach Amsterdam gefahren, oder? Weißt du, wann er wiederkommt? Er hat mir nämlich nichts darüber gesagt, und ich muss ihn dringend sprechen.«
»Eine Konferenz? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Uni ihn zu einer Konferenz fahren lässt, wo wir doch bis zum Hals in der Korrektur der Zwischenprüfungen stecken. Du weißt also auch nicht, wo er ist? Ich versuche ihn schon seit drei Tagen zu erreichen. Er ist mit einem Stapel Klausuren verschwunden, die er Montag
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