Blinder Einsatz
Judith reagierte nicht. Ihre Überlegungszeit verstrich ungenutzt.
Hugh versuchte es erneut.
Hugh3bet: Na, Judith, jetzt hast du wohl kalte Füße bekommen?
Statt zu antworten meldete sie sich ab und verschwand vom Tisch. Das überraschte Hugh. Der Ton beim Internetpoker war häufig viel rauer als ihr Geplänkel, kleine Neckereien dieser Art nahm einem dort eigentlich niemand krumm. Plötzlich schrieb Judith in die Chatbox:
Judith: Wir wissen, wer du bist. Wir wissen, wo du bist.
Judith: AA.
Judith: AD.
Judith: Nh.
Judith: TY.
Hugh starrte auf den Bildschirm. Sollte das eine Drohung sein? Hatte sie denn überhaupt nicht verstanden, was er ihr sagen wollte? Es kam öfter vor, dass Spieler einfach wortlos einen Tisch verließen. Aber dass jemand dabei Drohungen ausstieß, das war doch ungewöhnlich. »Wir wissen, wer du bist. Wir wissen, wo du bist.« Das musste gar nichts zu bedeuten haben. Ein Bluff, nicht im Spiel, sondern im richtigen Leben. Und dann noch einmal dieser absurde Dialog über die Asse. Hugh schüttelte den Kopf über den Schreck, den er im ersten Moment bei diesen Zeilen empfunden hatte – es war ihm beinahe vorgekommen, als wäre jemand in seine Wohnung eingedrungen, mitten in der Nacht, während er hier vor seinem Computer saß.
Da klingelte es an der Haustür. 1.23 Uhr. Hugh erstarrte. Sein Herz begann wild zu pochen. Er tastete auf dem Schreibtisch herum, um das Licht und den Bildschirm auszumachen. Nun war es stockfinster im Zimmer. Eine kindliche Angst überkam ihn. Er lauschte auf das kleinste Geräusch. Da, es klingelte wieder. Hugh wusste nicht, was er tun sollte. Aber auf keinen Fall würde er die Tür öffnen. Vorsichtig näherte er sich dem Fenster. Um etwas zu erkennen, hätte er das Fenster öffnen und sich hinausbeugen müssen.
»Wir wissen, wer du bist. Wir wissen, wo du bist.« Judiths Drohung ging ihm nicht aus dem Kopf.
Hugh schaltete den Bildschirm wieder an, um nachzuschauen, ob Judith sich von neuem im Chat gemeldet hatte. Sie hatte einen Satz hinzugefügt, der ihm tatsächlich Angst einjagte.
Judith: Na, du bist ja so still geworden?
Hugh saß zwanzig Minuten reglos im Dunkeln, lauschte auf jedes Geräusch, beobachtete jeden Lichtschimmer. Nichts. Kein Klingeln, keine Nachricht im Chat. Er speicherte den Dialog auf der Festplatte ab. Gleich morgen würde er ihn ausdrucken. Dann sah er vielleicht klarer, was das sollte. Der Bluff hatte jedenfalls funktioniert. Er würde jetzt bestimmt nicht gleich einschlafen können.
Constance war nach dem Streit mit Hugh zu einer Freundin gefahren, die versucht hatte, sie zu trösten. Sie wehrte sich gegen den Gedanken, dass mit Hugh endgültig Schluss sein sollte. Wie konnte man nur jemanden so lieben, der doch eindeutig nicht zu einem passte?
Doch sie konnte sich nicht immer nur mit Hugh beschäftigen. Am nächsten Morgen hatte sie eine wichtige Besprechung. Constance arbeitete für ein Unternehmen, das Marktanalysen erstellte. Die Kunden waren hauptsächlich Konzerne, die in Ländern Fuß fassen wollten, wo man nur schwer an verlässliche Informationen herankam. Gerade erst war Constance von einem zweimonatigen Aufenthalt in Kasachstan zurückgekommen, wo sie sich auf dem Markt für Uran umgeschaut hatte. Mehrere investitionsbereite europäische Unternehmen warteten auf ihre Informationen. Constance war mit einem kleinen Team von drei Mitarbeitern, einem Übersetzer, einem Ingenieur und einem persönlichen Assistenten, in Kasachstan unterwegs gewesen. Ihre Hauptaufgabe hatte darin bestanden, um Vertrauen zu werben und Beziehungen mit wichtigen Leuten zu knüpfen. Sie besaß ein außerordentliches diplomatisches Geschick, verstand es, sehr überzeugend aufzutreten, und ließ sich niemals von ihren Gesprächspartnern beeindrucken. In den Staaten der ehemaligen Sowjetunion begegnete man Ausländern, die sich für die dortigen Verhältnisse interessierten, schnell mit Argwohn. Schon vor ihrer Abreise hatte Constance Kontakt mit der Regierung Kasachstans aufgenommen, um die nötigen Genehmigungen für ihre Reise einzuholen. Bei der Erwähnung von möglichen Vertragsabschlüssen in Millionenhöhe wurden die Behörden etwas entgegenkommender. Dennoch hatte man ihr einen Begleiter als Aufpasser mitgegeben. Offiziell war er nur für den reibungslosen Ablauf ihrer Reise zuständig. Im Verlauf ihrer zweimonatigen Visite besichtigte Constance verschiedenste Anlagen und versuchte mit allen in Kontakt zu kommen, die in Kasachstan
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