Blinder Einsatz
einem einzigen Spaziergänger zu begegnen. Um 6.45 Uhr beschloss sie, ins Hotel zurückzukehren und bis 17 Uhr zu warten. Die erste Möglichkeit für ein Rendezvous hatte nichts ergeben. Nach einem wohltuenden Frühstück suchte sie ihr Zimmer auf, um ihre Recherchen fortzusetzen. Aber sie konnte sich nicht konzentrieren, sie war einfach zu nervös. Müde, aber zu unruhig, um zu schlafen, ging sie wieder hinaus. Die Zeit verging quälend langsam.
8. Juli, 16.30 Uhr
Constance war wieder auf dem Square Ambiorix. Jetzt herrschte dort eine ganz andere Atmosphäre: Spaziergänger, spielende Kinder, Studenten, die mit Büchern und Heften auf dem Rasen lagerten. Constance ließ ihre Blicke umherschweifen. Vielleicht der junge Mann dort, der ständig sein Handy am Ohr hatte? Versuchte er nicht, dringend jemanden zu erreichen? Nein, bloß eine Familie, die sich aus den Augen verloren hatte – seine Frau und das Kind hatten ihn bald gefunden. Constance versuchte erst gar nicht, sich unauffällig zu verhalten. Sie postierte sich unweit des Springbrunnens. Die Zeit des Treffens war nicht präzise angegeben, also hielt sie nach einer Person Ausschau, die sich benahm, als wäre sie zu früh zu einer Verabredung gekommen. Paare und Familien schieden aus.
17.45 Uhr
Schließlich entdeckte sie auf der anderen Seite der Straße eine gut angezogene Frau von etwa fünfzig Jahren in Schuhen mit hohen Absätzen. Mit ihrem eleganten Mantel, dem sorgfältig frisierten Haar und den wachen Augen strahlte sie Selbstbewusstsein aus. Ein Mann näherte sich ihr und gab ihr einen Kuss. Die Frau zuckte überrascht zurück, ließ ihn aber dann gewähren. Constance kam die Szene merkwürdig vor. Hatte sie das richtig gesehen? Es war sehr schnell gegangen, aber sie hatte dennoch den Eindruck gehabt, dass die Frau den Mann gar nicht kannte. Constance setzte sich instinktiv in Bewegung, um den beiden zu folgen. Besonders einträchtig sah es nicht aus, wie sie nebeneinander hergingen.
Wenn es sich bei der Frau um Judith handelte, was gab sie dann dem Unbekannten? Zweihundert Meter weiter trennten sie sich, ohne sich auch nur einen Blick zuzuwerfen. Constance zögerte. Sie hatte keine Übergabe beobachten können, wie sie es nach der Annonce in der New York Times eigentlich erwartet hatte. Wem der beiden sollte sie folgen? Falls diese Frau wirklich Judith war, dann war sie in dieser Geschichte jedenfalls die wichtigere Person. Den Mann hatte sie inzwischen sowie schon aus den Augen verloren. Also heftete sie ihren Blick auf die Frau, folgte ihr über den Platz und bog mit ihr in die Rue Archimède ein. Die Frau steuerte auf ein großes Gebäude zu, in dem Constance den Sitz der Europäischen Kommission erkannte. Am Eingang folgte ihr Constance so dicht auf dem Fuß, dass sie zusammen mit ihr unbehelligt durch die Sicherheitsschleuse schlüpfen konnte. Die Wachleute schienen nicht besonders eifrig bei der Sache. Constance stieg hinter der Frau in den Aufzug und fuhr mit ihr in den siebten Stock.
»Madame Haarmet, Ihr Termin mit dem Minister ist erst in einer halben Stunde. Er hat gerade angerufen und ihn verschoben.«
»Vielen Dank, Inge.«
Inge wandte sich an Constance, während Madame Haarmet im Flur verschwand.
»Haben Sie einen Termin?«
»Nein«, antwortete Constance überrascht.
»Dann wenden Sie sich bitte an den Empfang.«
Constance gab vor, sich im Stockwerk geirrt zu haben, und stieg wieder in den Aufzug. Wer war Madame Haarmet? Die Judith aus der Annonce? Was hatte sie mit dem Verschwinden von Hugh zu tun?
Als sie das Gebäude der Europäischen Kommission verließ, hatte Constance nur noch einen Gedanken im Kopf: mehr über diese Frau und ihre Rolle in der Politik herauszufinden. Noch auf dem Weg zu ihrem Hotel konsultierte sie ihr iPhone. Der Name Eline Haarmet, den Constance noch nie gehört hatte, erzielte Tausende Treffer auf Google, die zu Texten in allen möglichen Sprachen führten.
Lang erwartete Ernennung an der Spitze der EU
Le Monde, 22. Januar
Eline Haarmet, zweiundfünfzig Jahre, wurde heute zur Europakommissarin für Wettbewerbsfragen ernannt. Diese Nachricht wurde von Wirtschaftsfachleuten in der gesamten Europäischen Union mit Beifall aufgenommen. Eline Haarmet ist eine intime Kennerin des ökonomischen und politischen Apparats der Europäischen Gemeinschaft. Sie gilt als außerordentlich durchsetzungsstark und scheut sich nicht vor Konflikten. Im Verlauf ihrer langen Karriere saß sie im Aufsichtsrat der
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