Blinder Hass
Feur an, und der nickte. Trevor ging in den Nebenraum, der wohl ursprünglich das Esszimmer gewesen war, und kam wenige Sekunden später mit einer in Leder gebundenen Bibel zurück. Virgil reichte die Bibel Feur und sagte: »Legen Sie Ihre Hand darauf und schwören Sie, dass Sie nichts mit dem Tod von Judd oder den Gleasons zu tun haben.«
»Langsam machen Sie mich wütend, Mr. Flowers.«
»Wieso?«
»Weil Sie mir nicht gerade gläubig zu sein scheinen, und das ist eine ziemlich zynische Art, mich zu provozieren«, sagte Feur.
»Da irren Sie sich, ich bin gläubig«, entgegnete Virgil. »Nicht so ganz auf Ihre Art, aber ich bin ein gläubiger Mensch. Doch wenn Sie Ihre Hand nicht auf die Bibel legen wollen …«
Feur nahm die Bibel zwischen seine kleinen Hände und sagte, den Blick zur Decke gewandt: »Ich schwöre auf dieses Buch und bei meiner unsterblichen Seele, dass ich nichts mit den Morden an Bill Judd oder Mr. und Mrs. Gleason zu tun habe. Ich schwöre, dass ich hier keine Wortspiele treibe und keine Tatsachen verdrehe. Ich habe diese Morde nicht begangen, und ich habe sie auch nicht veranlasst.« Er sah Virgil an. »Amen.«
»Amen«, sagte Virgil und stand auf. »Dann werde ich wohl wieder gehen.«
»Das war alles?«
»Vielleicht. Ich möchte aber immer noch gern wissen, wo die Offenbarung herkam. Wenn ich es rausfinde, komme ich wieder.«
»Und du wirst nach deinen Werken gerichtet werden«, sagte Feur.
»Offenbarung 20:12«, sagte Virgil.
Feur neigte den Kopf zur Seite. »Sind Sie ein Wiedergeborener?«
»Ich bin der Sohn eines Predigers«, antwortete Virgil. »Wir haben jeden Abend beim Abendessen über die Bibel geredet, bis ich aufs College ging. Diese Art von Erziehung kriegt man in Stillwater nicht.«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte Feur. »Aber ich hatte immer ein Buch in meiner Zelle, die King-James-Bibel. Wenn wir Ausgangssperre hatten, hatte ich dieses Buch zum Lesen, und ich habe zwanzig Stunden am Tag darin gelesen. Wenn keine Ausgangssperre war, habe ich jede Nacht vier Stunden gelesen, und das dreieinhalb Jahre lang unter all den Sodomiten, Lustknaben und Kinderschändern. Diese Art von Erziehung haben Sie nicht bekommen.«
Virgil setzte sich wieder hin. »Die Offenbarung ist also Ihr Text?«
»Sie ist …« Feurs Augen wandten sich dem Licht zu, das durch das Fenster fiel und Muster auf dem Fußboden bildete. »Sie ist das Überwältigendste, was ich je gelesen habe. Es war tatsächlich eine Offenbarung.«
»Ich persönlich halte Hiob für das wichtigste Buch der Bibel«, sagte Virgil. »Weil es dort um die Frage geht, warum Gott das Böse überhaupt zulässt.«
Feur beugte sich beflissen vor. »Das Buch Hiob berichtet von der Welt, wie sie ist. Die Offenbarung erzählt uns, was kommen wird. Ich bin nicht ganz von dieser Welt, Mr. Flowers, jedenfalls nicht so wirklich. Einiges von dieser Welt ist aus mir herausgebrannt worden.«
»Wir sind einzig und allein von dieser Welt, Reverend«, sagte Virgil. »Und Sie sind nicht anders als alle anderen, die hier auf dieser Erde leben und über diese Erde wandeln.«
Feur lächelte ihn an, dann schüttelte er einmal kurz den Kopf und sagte zu Trevor: »Bring Mr. Flowers zur Tür. Und gib ihm eine von unseren Broschüren über die Nigger mit.«
Auf dem Weg zurück in die Stadt klingelte Virgils Handy. Er warf einen Blick auf das Armaturenbrett: eine Minute nach zwei. Williamson von der Zeitung. Er klappte das Telefon auf. »Ja?«
»Todd Williamson. Sie wollten mir doch was erzählen.«
»Dies hier kommt direkt vom Himmel, aus dem Nichts. Sie können sich das Gerücht von einer Mrs. Margaret Laymon bestätigen lassen oder von deren Tochter Jesse. Wir haben erfahren, dass Jesse die uneheliche Tochter von Bill Judd senior ist.«
»Da ramm mir doch einer ein Stück Stacheldraht in den Arsch«, sagte Williamson nach kurzem Schweigen, was Virgil eines Präriebewohners durchaus würdig fand.
SECHS
Nach dem Gespräch mit Williamson suchte Virgil Strykers Handynummer heraus, überlegte einen Moment, dann tippte er sie ein. Stryker meldete sich fünf Sekunden später. An den Hintergrundgeräuschen konnte Virgil erkennen, dass er in seinem Truck saß.
»Hast du mit den Laymons gesprochen?«, fragte Virgil.
»Ja. Sex und Geld auf dem platten Land«, erwiderte Stryker. »Sie sagen tatsächlich die Wahrheit. Sie haben bereits mit einem Anwalt in Worthington gesprochen, und sie werden beim Bezirksgericht eine Eingabe machen, um bei der
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