Blinder Instinkt - Psychothriller
ihren Argusaugen. Wie erschreckend tief ihm dieser Blick noch immer ins Gebein fuhr!
»Reagiert er?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf und legte seine Hand in einer, wie er hoffte, liebevoll anmutenden Geste auf die seines Vaters. Schlaff und trocken fühlte sich die Haut an, und kalt. Fast wie die einer gehäuteten Schlange.
»Nein, leider nicht. Dabei wollte ich ihm doch erzählen, wie gut sein Geschäft zurzeit läuft.«
Mutter seufzte schwer. »Das hätte ihn so gefreut. Er hat doch nur für seinen Laden gelebt.«
Das kann mal wohl sagen , dachte er. Etwas anderes als die Belange seines Geschäfts hatte seinen Vater tatsächlich nie interessiert, und darum musste es doch geradezu unerträglich
für ihn sein zu wissen, dass sein nichtsnutziger Sohn dort jetzt das Sagen hatte.
»Wir können beim Essen darüber sprechen. Deck bitte den Tisch ein«, befahl seine Mutter von der Tür aus und verschwand wieder in der Küche.
»Ja, gern!«
Aber er blieb noch einen Moment vor seinem Vater hocken, ließ die Hand noch liegen, schloss sie fester um die des alten Mannes und drückte unerbittlich zu, während er leise sagte: »Beschissen läuft dein Geschäft, und wenn es so weitergeht, melde ich nächstes Jahr Insolvenz an. Die Bank will mir die Hypothek kündigen, klasse, oder? Was du in vierzig Jahren aufgebaut hast, habe ich in zehn Jahren zerstört.«
Ahh! Wie gut es sich anfühlte, dem Alten endlich einmal die Wahrheit zu sagen. Allein dafür hatte sich der Stress der letzten Nacht gelohnt. Ohne das daraus resultierende Hochgefühl hätte er sich nie getraut.
Der alte Mann blinzelte. Und war da nicht ein kleines Flackern in den trübsinnigen Augen? Lag es an dem Schmerz der zusammengedrückten Knochen seiner Hand oder an dem Schmerz der Erkenntnis, dass sein eigener Sohn dabei war, ihm alles zu nehmen: Würde, Ehre, Stolz, Geld, die Früchte seines Lebens. Einfach alles! Ja, da war ganz eindeutig ein kurzes helles Flackern, und er bildete sich ein, dass es aus Leid geboren war. Dann war es auch schon wieder erloschen, der alte Mann wieder nur ein Zombie.
Mühsam drückte er sich aus der hockenden Position hoch und ging hinüber ins Esszimmer, das vom Wohnzimmer nur durch einen breiten Mauerdurchbruch getrennt war. Wie seine Mutter es befohlen hatte, stellte er Teller und Gläser auf die blütenweiße Tischdecke, legte das passende Silberbesteck
hinzu und drapierte schließlich noch rote Papierservietten auf die Teller, farblich abgestimmt zu den Rosen, die in einer gläsernen Vase am Ende der Tafel standen.
Danach verbrachte er ein paar unschlüssige Minuten neben dem Tisch, darauf wartend, von seiner Mutter gerufen zu werden, und wurde dabei immer nervöser. Er konnte nicht einfach in die Küche gehen und seiner Mutter helfen. Sie hatte es nicht gern, wenn jemand dort umherwuselte, solange sie kochte. Also lauschte er ihren Geräuschen und konnte fast auf die Sekunde genau sagen, wann sie nach ihm rufen würde.
Jetzt!
»Mein Junge, holst du bitte den Wein und schenkst schon mal ein!«
Er wäre nicht schneller gestartet, wäre neben ihm der Startschuss zu einem Hundert-Meter-Lauf gefallen. Auf dem Küchentisch fand er eine bereits entkorkte Flasche Weißwein vor. Er nahm sie, ging zurück und schenkte ein. Währendessen brachte Mutter die Porzellanschalen mit Kartoffeln, Rotkohl und die Platte mit dem säuberlich zerlegten Fleisch. Als alles dampfend auf dem Tisch stand, warf sie einen zufriedenen Blick darauf.
»So, dann können wir ja essen. Ich hole deinen Vater dazu.«
Sie ging hinüber, entriegelte die Bremsen des Rollstuhls und schob Vater an den Kopf der Tafel. Natürlich hatte er dort zuvor auch ein Gedeck drapiert, genauso wie für Mutter und sich selbst. Es spielte keine Rolle, dass sein Vater nicht mit ihnen aß, wichtig war nur, dass die alten Rituale eingehalten wurden.
»Guten Appetit«, sagte Mutter.
Sie setzten sich, taten sich auf und begannen zunächst schweigend zu essen. Immer wieder warf er verstohlene Blicke zu seinem Vater hinüber; er saß einfach nur da, und sein Leben lief in dünnen, durchsichtigen Fäden aus seinem Mund. Mutter ignorierte es völlig. Sie aß mit gesenktem Kopf. Ihr Gebiss war so schlecht, dass sie auf jedem Bissen Fleisch herumkaute, als enthielte er Hunderte von Gräten. Dabei gab sie schmatzende und merkwürdig zischelnde Laute von sich.
»Wie sieht es denn aus im Geschäft?«, fragte Mutter schließlich. Stets war sie es, die während des Essens das
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