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Blinder Instinkt - Psychothriller

Titel: Blinder Instinkt - Psychothriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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Gruppe Tannen hinter dem Zaun vorbei konnte Franziska die Rückseite des Gebäudeflügels sehen, in dem die kleine Sarah untergebracht war. Sie hatte sich nicht gemerkt, welches der Fenster zu ihrem Zimmer gehörte, nur, dass es im zweiten Stock lag. Von diesem Platz aus ließ sich problemlos die gesamte Rückseite überblicken.
    Hier hast du gesessen, nachts, in völliger Dunkelheit. Der nächtliche Wald macht dir keine Angst, du hast ihm sogar deinen Rücken zugedreht, bist also kein Kind der Großstadt. Vielleicht auf dem Land aufgewachsen. Du hast hier gesessen und das Gebäude beobachtet, eine Vielzahl von Fenstern. Was hast du gesehen? Licht, zugezogene Vorhänge, vielleicht das eine oder andere Gesicht hinter der Scheibe, aber mehr auf keinen Fall. Du wusstest wahrscheinlich, hinter welchem der Fenster dein Opfer zu finden ist, was dafür spricht, dass du dich in dem Heim auskennst. Aber wenn das so ist, warum hast du dann hier gesessen, vielleicht stundenlang? Das ist nicht ohne Risiko. Du hättest auch einfach zu gegebener Zeit vorfahren und dein Vorhaben in die Tat umsetzen können. Aber nein. Du hast es vorgezogen, hier zu sitzen und zu beobachten.
    Jetzt musste sie noch einen Schritt weitergehen, sich vom Täter lösen und einen Platz neben dem Stamm einnehmen.
Franziska stand auf und positionierte sich ein paar Schritte hinter dem Stamm.
    Er will das Kind. Er sitzt hier, vielleicht an verschiedenen Tagen stundenlang, obwohl es nicht nötig ist. Er beobachtet. Das tut er gern. Er ist ein Voyeur. Zu sehen, ohne gesehen zu werden, ist wichtig für ihn. Doch das ist noch nicht alles.
    Franziska sah zu dem Gebäude empor und stellte sich vor, dort oben in einem warmen, sicheren Bettchen zu liegen. Dicke Mauern, Fenster, Schwestern, die über die Kinder wachten. Die gleiche trügerische Sicherheit, die sie gestern in ihrem eigenen Kinderzimmer empfunden hatte. Ihre Lebenserfahrung, ihr Wissen um das Böse hatten sie nicht darauf hereinfallen lassen, aber die Kinder waren arglos. Ein Bett ist aus Sicht eines Kindes ein sicherer Ort. Was unter der Bettdecke steckt, kann nicht abgehackt werden. Die Decke ist der Schutz vor dem schwarzen Mann.
    Er kannte das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit. Er sah sich als Zerstörer dieser Sicherheit, das gab ihm ein Gefühl der Macht. Wahrscheinlich törnte es ihn an, sich vorzustellen, dass diese Kinder dort oben sich unbewusst vor ihm fürchteten, vor dem, was in der Dunkelheit lauerte. Er war die Gefahr, die Augen in der Dunkelheit, der Jäger. Er hatte hier gesessen, weil die Jagd an sich Teil seiner Motivation war. Wahrscheinlich befriedigte es ihn sogar. Alle Täter waren einzig und allein auf der Suche nach Befriedigung.
    Franziska senkte den Blick und betrachtete den Waldboden. So wie Paul es gesagt hatte, war das alte Laub vor dem Baumstamm platt getreten. Er war tatsächlich oft hier gewesen. Nicht weil er es musste, sondern weil er es wollte.
    Franziska ging zu Paul zurück. Bis hierher war sie zufrieden, den Rest mussten die Spurentechniker herausfinden.
Es war immer wieder diese Konstellation aus drei verschiedenen Sichtweisen, die ihr weiterhalf: Ihre eigene als unbeteiligte, möglichst objektive Außenstehende. Dann die des Täters kurz vor und während der Tat. Schließlich die des Opfers in Unwissenheit des bevorstehenden Angriffs. War es stark, mutig, schnell oder verletzlich, schutzlos, hilflos? Für den Täter ein großer Unterschied.
    »Sie sollen den Boden vor dem Stamm äußerst gründlich untersuchen«, sagte Franziska, als sie Paul erreichte. »Vielleicht hat er sich hier einen runtergeholt.«

5
    Endlich!
    Sie erwachte!
    Seit fast einer Stunde saß er nun schon in seinem Versteck und beobachtete sie. Von seiner erhöhten Position aus hatte er einen hervorragenden Blick über die Büsche und zwischen den Bäumen hindurch. Sie lag in einer kleinen Mulde vor dem umgestürzten Baumstamm, dessen Verrottung schon weit fortgeschritten war. Eingerollt wie ein junges Rehkitz lag sie dort. Es war ein harmonisches, friedliches Bild. Der Mensch im Urzustand im Schoße der Natur, dort, wo er hingehörte. Frei und schamlos. Das aufs Wesentliche reduzierte Lebewesen. Eines unter vielen, weder göttlich noch unbesiegbar. Diese Harmonie war nach ein paar Minuten auf ihn übergesprungen und hatte die Unruhe vertrieben.
    Das kleine Mädchen war entzückend!
    Es weckte Erinnerungen in ihm. Daran, wie es bei der
Ersten gewesen war, vor scheinbar unendlich langer

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