Blinder Instinkt - Psychothriller
»Hinter dem Gebäudeflügel, in dem Sarah schlief, ist ein Loch in den Zaun geschnitten. Die Schnittflächen rosten noch nicht, sind also neu. Und wir haben auch eine Stelle gefunden, von der aus jemand das Gebäude beobachtet haben könnte. Neben einem umgestürzten Baum ist der Waldboden niedergetrampelt, so als hätte sich dort jemand oft und lange die Füße vertreten.«
»Schau an!«, sagte Franziska. »Hat denn der Hund etwas gefunden?«
»Ja. Direkt am Zaun hat er angeschlagen. Dann ist er einer Spur in den Wald hinein gefolgt, hat sie aber verloren. Der Hundeführer ist noch unterwegs und versucht, sie wiederzufinden.«
»Na, das ist doch schon mal was. Ich nehme an, du hast die Spurensicherung informiert.«
»Na klar«, sagte Adamek.
Franziska wusste natürlich, dass sie sich auf Paul Adamek verlassen konnte, immerhin arbeitete sie bereits seit fünf Jahren mit ihm zusammen, ohne dass es irgendwelche Probleme gegeben hätte. Paul war der Typ sorgfältiger Ermittler, der ebenso wie sie selbst möglichst nichts unbeachtet ließ und im Zweifel lieber doppelt und dreifach kontrollierte. Es fehlte ihm zwar ein wenig an Kreativität - wovon sie selbst mehr als genug hatte -, aber diesen Mangel machte Paul durch Fleiß und Zielstrebigkeit mehr als wett.
Sie erreichten den Zaun. Er war an der Stelle, an die Paul sie führte, durch eine Gruppe dicht belaubter Büsche verdeckt.
Paul bog ein paar Äste auseinander, und Franziska schlüpfte tief gebückt hindurch. Nachdem sie sich aufgerichtet und ihr Haar aus der Stirn gestrichen hatte, sah sie das Loch bereits. Es begann unmittelbar über dem Boden, war circa einen Meter breit und ebenso hoch. Der Täter hatte sich geschickt angestellt. Er hatte das Stück Drahtgeflecht nicht ganz herausgeschnitten, sondern es oben am Zaun belassen, so dass es herunterklappen konnte. Somit war die Beschädigung von Weitem nicht zu sehen.
»War es oben, als ihr es gefunden habt?«, fragte Franziska.
Adamek schüttelte den Kopf. »Nein, es hing herunter. Mit einem oberflächlichen Blick konnte man es nicht erkennen, und ich muss gestehen, dass ich heute früh daran vorbeigelaufen bin. Erst der Hund hat uns hierhergeführt, nachdem er oben im Zimmer des Mädchens Witterung aufgenommen hat. Es steht also fest, dass der Täter das Mädchen durch dieses Loch im Zaun vom Grundstück gebracht hat. Wahrscheinlich parkte irgendwo im Wald sein Wagen, und dort wird der Hund dann die Spur verlieren.«
»Und wir finden sie wieder«, sagte Franziska, trat durch das Loch im Zaun in den Wald und hatte sofort das Gefühl, in die Welt des Täters einzudringen.
3
»Junge, wie siehst du denn wieder aus!«
Das Gesicht seiner Mutter verzog sich auf die ihm so bekannte und verhasste Art. Rund um ihren Mund begann das Erdbeben. Schlaffes, altes Gewebe formte sich zu einem spitzen Trichter, drang weit nach vorn, so als wolle sie einen
Mondfisch bei der Nahrungsaufnahme nachahmen. Dabei bildeten sich tiefe Schluchten in dem zu dick aufgetragenen Lippenstift. Während ihr Mund diese Form annahm, riss Mutter die Augen weit auf und schob die sorgfältig dünn gezupften Augenbrauen nach oben. Darüber schimmerte weiße, schuppige Kopfhaut unter dünn gewordenem Haar.
Nicht nur das Alter hatte seine Mutter hässlich gemacht. Sie trug ihr Innerstes zur Schau, und das war angefüllt mit Neid, Missgunst und Hass. Es drang ihr quasi aus jeder Pore.
»Hast du heute schon mal in den Spiegel geschaut?«, fragte sie ihn mit ihrem spitzen Mund. Natürlich erwartete sie keine Antwort darauf. Auch wenn es auf Außenstehende gemein und verletzend wirkte - und sie hatte keine Hemmungen, auch vor Dritten so mit ihm zu sprechen -, war es doch nichts weiter als ein Ritual, an das er sich gewöhnt hatte und das ihm eigentlich gleichgültig sein sollte.
An manchen Tagen, schlechten Tagen, trafen ihre Worte ihn aber doch, und dann wurde ihm voller Bestürzung bewusst, dass sie ihm niemals gleichgültig sein würden, egal wie sehr er sich auch anstrengte.
Niemals, niemals, niemals!
Ihre Lippen näherten sich seiner Wange und hinterließen einen klebrigen Abdruck darauf. Deutlich spürte er ihre borstigen Barthaare über seine Haut kratzen. Ein kalter Schauer lief seinen Rücken hinab.
»Komm erst mal rein, bevor die Nachbarn dich so sehen.« Mit ihrer erstaunlich kräftigen Hand packte sie ihn an der Schulter und zog ihn in den Hausflur. Bevor sie die schwere Tür schloss, spähte sie nach rechts und links die
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