Blinder Instinkt - Psychothriller
Straße hinunter - sie war menschenleer.
»Die werden immer neugieriger! Nichts kann man hier
mehr geheim halten. Und der alte Kerl von gegenüber sitzt jetzt den ganzen Tag mit seinem Fernglas hinter der Gardine. Er denkt, ich sehe ihn nicht, aber ich sehe ihn sehr wohl. Ich sehe immer noch sehr gut!«
Dann schlug sie die Tür zu, und er zuckte zusammen. Plötzlich war es dunkel in dem geräumigen Flur, in dem es kein Fenster gab und in dem alle Möbel in dunklem Mahagoni gehalten waren. Sie saugten das wenige Licht auf, schienen ihm mitunter auch alles Leben aufzusaugen.
»Gib mir deine Jacke, und geh deinen Vater begrüßen. Er sitzt in seinem Stuhl im Wohnzimmer. In einer Viertelstunde ist das Essen fertig. Na los, geh schon!« Sie riss ihm quasi seine dünne Sommerjacke von den Schultern und schubste ihn durch den Flur, während sie selbst in die Küche verschwand.
Als sie fort war, blieb er zunächst im Türrahmen zum Wohnzimmer stehen, atmete dort tief ein und aus, strich Falten aus seiner Stoffhose, die nicht vorhanden waren. Seine Handinnenflächen waren schwitzig; er hasste dieses Gefühl, ekelte sich gar davor, konnte es aber nicht abstellen.
Er fühlte sich euphorisch heute, war aufgedreht und kribbelig. Es hatte ihn große Überwindung gekostet, überhaupt herzukommen. Doch das sonntägliche Mittagessen war ein Ritual, das er nicht ausfallen lassen durfte, wenn er den Argwohn seiner Mutter nicht wecken wollte. Und das wollte er auf keinen Fall!
Aus der Küche hörte er das Klappern von Topfdeckeln. Der übliche Geruch drang zu ihm herüber. Kartoffeln, mehlig kochend natürlich, Rotkohl mit deutlich zu viel Rotwein angereichert, dazu Schweinebraten mit fettiger Kruste. Hatte es sonntags je etwas anderes zu essen gegeben bei seinen Eltern? Wenn es so gewesen war, konnte er sich nicht daran
erinnern. Dieses Menü hing ihm bis sonst wo hinaus, er konnte kotzen, wenn er nur den Geruch wahrnahm, aber das änderte nichts. Er musste da durch. Jeden gottverdammten Sonntag seines Lebens. Kartoffeln, Rotkohl, Schweinebraten, fettige Soße …
»Hallo, Vater!«, rief er betont freudig aus und trat den einen Schritt vom gefliesten Boden des Flures auf den hochflorigen Teppich des Wohnzimmers.
Der alte glatzköpfige Mann saß wie immer in seinem Rollstuhl vor dem großen Wohnzimmerfenster, das in den Garten hinauszeigte. Blicklos starrte er vor sich hin. Seine Hände lagen ausgestreckt auf den Lehnen des Rollstuhls, als seien sie dort fixiert. Die Finger zitterten wie die Flügel einer Libelle in andauernden, kleinen, fast zarten Bewegungen. Um den schlaffen, faltigen Hals trug er eine dünne metallene Kette mit Clips an beiden Enden, darin befestigt war ein großes weißes Papiertuch, das auf dem Hemd vor seiner Brust lag. Ein Tropfschutz, wie ihn Zahnärzte benutzen, und natürlich war er nicht mehr trocken. Gerade verabschiedete sich wieder ein dünner Speichelfaden vom Mundwinkel seines Vaters. Der Anblick ekelte ihn an! Es schien, als troff das Leben aus dem Körper seines Vaters auf dieses Papiertuch, um von seiner Mutter dann stückweise in den Mülleimer entsorgt zu werden.
Er wartete, bis der Speichelfaden sich von den Lippen getrennt hatte und in dem Tuch versickert war, dann umrundete er den Rollstuhl und ging vor den Füßen seines Vaters in die Knie. »Hallo, Vater, wie geht es dir heute?«
An ihm vorbei konnte sein Vater jetzt nicht mehr schauen, da sich ihre Gesichter genau gegenüber befanden, aber er wusste, dass diese trüben, immerzu feuchten grauen Augen
einfach durch ihn hindurchstarrten, so als wäre er gar nicht vorhanden. Er wusste es, weil es nie anders gewesen war. Eine Antwort bekam er auf seine Frage nach dem Befinden nicht. Hatte er aber auch nicht erwartet.
In der Küche rumorte seine Mutter mit den Töpfen.
»Hat er einen schlechten Tag heute?«, rief er ihr zu.
»Ja, einen besonders schlechten.«
Er lächelte. Seine Euphorie ließ ihn mutig werden. Heute konnte er sich trauen, was er sich noch nie getraut hatte, hatte er doch bewiesen, dass er zu allem fähig war. »Tja, alter Mann, so kann es kommen«, flüsterte er ihm zu. »Früher hast du nie zuhören wollen, und jetzt musst du, ob du willst oder nicht. Ein Scheißgefühl, diese Hilflosigkeit, nicht wahr? Und, hat sie dir heute schon die Windel gewechselt und deinen faltigen Arsch abgewischt, hm? Und hast du auch schön brav deinen Brei gegessen …«
Plötzlich stand seine Mutter in der Tür und fixierte ihn mit
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