Blinder Instinkt - Psychothriller
Finger geschoben wurde. Sie schloss ihre Hand darum. Das Glas war kühl. Kondenswasser perlte daran ab. Es war groß und bis oben hin gefüllt.
»Ich mag aber keine Milch«, sagte Sarah. Sie ekelte sich vor dem Geschmack.
Nachdem der Satz heraus war, herrschte für einen unsagbar langen Moment tiefes Schweigen. Der Mann bewegte sich nicht mehr. Er stand einfach da und starrte Sarah an. Die Stimmung hatte sich schlagartig geändert, Sarah konnte es fühlen. Wo eben noch Wärme und Freundlichkeit geherrscht hatten, waren nun Enttäuschung und Kälte.
»Nun«, begann der Mann mit einer Stimme, die nicht mehr viel gemein hatte mit der vorherigen, »dann gewöhnst du dich besser schnell daran, denn in diesem Haus gibt es für kleine Mädchen nur Milch zu trinken.«
»Aber ich …«
»Nein!«, sagte er laut. »Du trinkst deine Milch! Wenn du deine Milch nicht trinkst, bringe ich dich zurück in den Wald der tausend Beinchen.«
Sarah erstarrte.
Der Wald der tausend Beinchen!
Sie wusste sofort, dass damit der Wald gemeint war, in dem die Schlange sie gebissen hatte, in dem alles kreuchte und fleuchte und nach ihren Körperöffnungen gierte. Sie wollte nicht dorthin zurück, nie mehr wieder, sie würde den ganzen Tag Milch trinken und sich an den sämigen, tierischen
Geschmack gewöhnen, wenn sie sich damit vor den tausend Beinchen retten konnte.
Tränen kullerten ihre Wangen hinab, während sie mit beiden Händen das große, schwere Glas umfasste und es an ihren Mund führte. Sie presste die Lider zusammen, atmete tief ein, hielt dann die Luft an und trank. So nahm sie auch immer Medizin zu sich, deren Geschmack sie nicht leiden konnte; sie musste nur den Atem anhalten, dann schmeckte sie fast gar nichts mehr.
Die kühle Milch rann ihre Kehle hinab und tat dort eigentlich ganz gut. Sie trank, bis das Glas sich nur noch halb so schwer anfühlte, dann setzte sie es ab und atmete laut aus.
»Na also, es geht doch«, sagte der Mann, und seine Stimme klang wieder freundlich. »Dann kann es jetzt ja mit den Pfannkuchen weitergehen. Was meinst du, kleine Sarah?«
Sarah nickte. Bemühte sich krampfhaft, die Milch drinnen zu behalten und nicht zu heulen. Sie war ein großes tapferes Mädchen und musste nicht heulen. Alles würde irgendwie schon wieder in Ordnung kommen. Ganz bestimmt!
Sie bekam einen Pfannkuchen auf ihren Teller, und er bestrich ihn ihr sogar mit dem Preiselbeerkompott. Sie begann sofort zu essen. Es schmeckte gut, und sie spürte dabei ihren Hunger, doch ihre Gedanken waren abgelenkt. Frau Hagedorn hatte mal zu Sarah gesagt, sie hätte noch nie ein Mädchen in der Klasse gehabt mit einer so schnellen Auffassungsgabe. Sarah lernte schnell und mit Leichtigkeit, das war schon immer so gewesen, und gerade eben hatte sie ihre Lektion gelernt.
Der Mann, der so gut duftete, der ihr zärtlich übers Haar gestrichen und sie fest an die Hand genommen hatte, damit sie nicht stolperte, war derselbe Mann, der es zugelassen
hatte, dass sie von einer Schlange gebissen wurde. Und auch wenn Sarah sich nicht vorstellen konnte, warum er das alles tat, war ihr jetzt klar, dass dieser Mann böse war und sie ihm nicht vertrauen durfte. Sie würde so tun, aber so sehr er sich auch anstrengte, so viel leckere Pfannkuchen er auch für sie backen mochte, sie durfte ihm nie wieder vertrauen. Hinter der Freundlichkeit dieses Mannes versteckte sich etwas, das Sarah nicht verstand. Es veränderte die Stimme des Mannes augenblicklich, es konnte einen Raum rasch abkühlen, es war fies und gemein und unberechenbar. Sarah ahnte, dass sie diese Seite des Mannes am besten umgehen konnte, wenn sie tat, was er sagte.
»Na, da sieht man aber, dass es dir schmeckt. Du hast ja richtigen Hunger, nicht wahr?«
Sarah nickte mit vollem Mund und schob eine weitere Gabel voll Pfannkuchen hinterher.
Der Mann stand neben dem Tisch und blickte auf sie herab. Sie spürte sein Lächeln und seine Zufriedenheit, spürte die Sonne im Zimmer und sagte sich gleichzeitig immer wieder:
Du darfst ihm nicht vertrauen, er ist böse.
Du darfst ihm nie wieder vertrauen, er ist böse.
Vertrau ihm nicht, aber iss und trink, was er dir gibt.
Irgendwie wird irgendwann schon alles wieder in Ordnung kommen.
Bestimmt!
13
Max war unruhig.
Er war schon während der letzten halben Stunde auf dem Spielfeld unruhig gewesen, hatte dauernd auf seine Armbanduhr geschaut, es aber trotzdem noch geschafft, konzentriert zu bleiben. Jetzt, wo das Spiel zu Ende war und die
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