Blinder Instinkt - Psychothriller
Dröhnen und Pochen im Kopf, dazu einen trocken-pelzigen Belag im Mund. Und sie wurde beobachtet!
Sarah brachte kein Wort hervor, blieb einfach still liegen, konnte aber das konstante Zittern nicht verhindern. Während sie dort lag, nahm sie auf einer rationaleren Ebene zur Kenntnis, dass sie sich nicht mehr im Wald befand. Sie lag in einem ganz normalen Bett. Nicht in ihrem Bett in ihrem Zimmer im Heim, aber auch nicht mehr im Wald, und dafür war sie dankbar. Niemals in ihrem Leben würde sie dieses Gefühl wieder vergessen, wie von allen Seiten, von oben und unten diese scharrenden Beinchen auf sie zugekrochen waren, sie betastet hatten, an ihrer ungeschützten Haut herumgekratzt und …
»Guten Morgen, Sarah. Wie geht es dir?«
Sarah erstarrte. Das Zittern ließ augenblicklich nach.
Er hatte freundlich geklungen, gar nicht fies und böse, nicht so wie der Teufel, den sie sich vorgestellt hatte. War er gar nicht böse? Vielleicht war es auch gar nicht der Mann, der sie entführt hatte, sondern ein ganz anderer, ein Polizist, der sie gerettet hatte und nun auf sie aufpasste!
»Ich habe Kopfweh!«, sagte Sarah. »Und ganz schrecklichen Durst.« Sie spürte, dass ihre Stimme erst wieder in Schwung kommen musste.
»Das habe ich mir gedacht«, sagte der Mann. »Deshalb habe ich auch Frühstück für uns beide vorbereitet. Du kannst so viel Milch trinken, wie du willst. Du magst doch Milch, nicht wahr?«
Sarah wollte ihm nicht sagen, dass sie Milch hasste, denn er hörte sich so freundlich an, wie einer der Betreuer, die sie manchmal begleiteten, wenn sie draußen auf ein Abenteuer unterwegs waren. Sarah meinte auch, die Stimme zu kennen. Irgendwann hatte sie sie schon einmal gehört, aber das konnte lange zurückliegen. Sie hatte ein sehr gutes Gedächtnis für Stimmen, vergaß kaum einmal eine, deshalb gerieten sie in ihrem Kopf auch schnell mal durcheinander.
»Wo bin ich?«, fragte sie, statt auf die Frage des Mannes zu reagieren.
Sie hörte, wie er sich bewegte, auf das Bett zukam.
»Na komm, kleine Sarah, wir werden erst mal ordentlich frühstücken. Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit am Tag, das weißt du doch sicher!«
Sie spürte seine Hand an ihrer, griff automatisch danach und ließ sich von dem fremden Bett hochziehen. Kaum stand sie, wurde sie auch schon von einem heftigen Schwindel erfasst. In ihrem Kopf drehte sich plötzlich alles, oben war unten und seitlich gleichzeitig, und wenn er sie nicht festgehalten hätte, wäre sie umgefallen.
»Oh, oh, oh, kleine Dame«, sagte er, »das kommt davon, wenn man so lange schläft und nichts Vernünftiges isst. Jetzt wird es aber wirklich Zeit.«
Sarah spürte seinen Atem in ihrem Gesicht. Er war ganz
dicht bei ihr. Sein Atem war warm und roch nach Zahnpasta. Überhaupt roch er gut, so als habe er sich gerade mit Parfum eingesprüht. Darunter lag noch ein anderer Geruch, viel weniger intensiv, aber ihre feine Nase nahm ihn trotzdem wahr. So roch es immer aus der Küche des Heimes, wenn es zum Mittagessen Fisch gab.
»Geht es wieder?«, fragte er. Seine Hand strich dabei zärtlich über ihr Haar.
Sarah riss sich zusammen, obwohl sie meinte, sich übergeben zu müssen. Sie nickte und klammerte sich etwas fester an den fremden, gut duftenden Mann.
»Dann komm jetzt. Es ist nicht weit, du wirst es schon schaffen. Bleib einfach an meiner Hand. Du musst ganz dicht neben mir gehen. Hier steht einiges herum, und wir wollen doch nicht, dass du stolperst, nicht wahr!«
»Nein«, flüsterte Sarah.
Sie ergriff die Hand des Mannes und folgte ihm. Er hatte eine weiche, schwitzige Hand, und je länger sie sich daran festhielt, desto feuchter wurde sie.
Sie gingen geradeaus, dann um eine Ecke, er manövrierte sie zwischen etwas hindurch, das sich an ihrem anderen Handrücken wie Stoff anfühlte.
»So, da sind wir auch schon. Komm, ich zeig dir deinen Stuhl.«
Er führte sie noch ein Stück und legte ihre Hand dann an die Lehne eines Holzstuhls. Sarah fragte sich, ob er schon öfter blinde Mädchen geführt hatte. Er schien zu wissen, dass er sie ab dem Moment, da sie die Rückenlehne des Stuhles ertastet hatte, allein lassen konnte. Sarah kroch auf den Stuhl und setzte sich an einen Tisch, der aus Metall und eiskalt war.
»So, kleine Sarah, und hier ist auch schon deine Milch. Ich habe Pfannkuchen gemacht. Es gibt Preiselbeerkompott dazu und Bagels. Das mögen doch alle kleinen Mädchen, nicht wahr?«
Sarah spürte, wie ihr ein Glas gegen die
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