Blinder Passagier
sowieso«, erwiderte ich.
»Ja, aber der Unterschied ist, dass du nicht müsstest. Du könntest jemand anders an Tatorte schicken und zu Hause bleiben.
Du bist der Boss.«
»Ich lasse Lucy immer allein, wenn sie mich braucht, Marino.«
»Ich sage dir, Doc, sie versteht das. Sie wird wahrscheinlich sowieso nach D.C. müssen, um die ganze Nachbearbeitungsscheiße über sich ergehen zu lassen.«
Ich hatte ihm nichts von Dorothys Besuch erzählt. Es hätte ihn nur aufgeregt.
»Du gehörst zur Fakultät des MCV. Ich meine, du bist richtige Ärztin.«
»Danke.«
»Kannst du nicht einfach mit der Verwaltung oder so sprechen?«, sagte er und drückte auf den Zigarettenanzünder.
»Kannst du nicht irgendwelche Fäden ziehen, damit Lucy zu ihr kann?«
»So lange Jo nicht in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen, entscheidet ausschließlich ihre Familie, wer sie besuchen darf und wer nicht.«
»Verdammte Frömmler. Bibel schwingende Hitler.«
»Es gab mal eine Zeit, als auch du ziemlich engstirnig warst, Marino«, erinnerte ich ihn. »Wie mir scheint, hast du von Tunten und Schwulen geredet. Ich will manche der Ausdrücke, die du benutzt hast, gar nicht wiederholen.«
»Ja. Aber ich habe sie nie so gemeint.«
Vor dem Millionaire Jetcenter hatte es fast null Grad, und ein heftiger eisiger Wind beutelte mich, als ich Gepäckstücke hinten aus dem Pickup nahm. Wir wurden von zwei Piloten erwartet, die nicht viel sprachen, als sie ein Tor öffneten und uns auf eine Startbahn führten, wo wir in einen Learjet stiegen. Ein dicker Umschlag lag auf einem der Sitze, und als wir starteten, schaltete ich das Licht aus und schlief, bis wir in Teterboro, New Jersey landeten.
Ein dunkelblauer Explorer glitt auf uns zu, als wir die Metalltreppe hinuntergingen. Es fielen kleine Schneeflocken, die mir ins Gesicht stachen.
»Polizei.« Marino nickte, als der Explorer neben dem Flugzeug stehen blieb.
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es immer«, sagte er.
Der Fahrer trug Jeans und einen Ledermantel und sah aus, als würde er das Leben aus allen Winkeln kennen. Er schien froh, uns abholen zu dürfen, und verstaute unser Gepäck im Kofferraum. Marino setzte sich nach vorn, und schon tauschten sie Geschichten und Anekdoten aus, denn der Fahrer gehörte dem NYDP an, wo Marino früher gewesen war. Ich döste vor mich hin, und wann immer ich aufwachte, hörte ich Gesprächsfetzen.
»Adams von der Kriminalpolizei hat gegen elf Uhr abends angerufen. Vermutlich hat Interpol zuerst mit ihm gesprochen.
Ich wusste gar nicht, dass er mit denen was zu tun hat.«
»Ach ja?« Marinos Stimme klang gedämpft und einschläfernd wie Bourbon on the rocks. »Ich wette, irgendso ein Aufsteiger -«
»Nee. Er ist okay.«
Ich schloss die Augen und glitt weg, die Lichter der Stadt fielen auf meine Augenlider, als ich den leeren Schmerz wieder spürte.
»war eines Abends so betrunken, dass ich am nächsten Morgen aufwachte und nicht mehr wusste, wo mein Wagen und meine Papiere waren. Das war mein Weckruf -«
Ich war bislang nur ein Mal Überschall geflogen und zwar mit Benton. Ich erinnerte mich an seinen Körper neben meinem, die Hitze in meinen Brüsten, die ihn berührten, während wir auf den schmalen grauen Ledersitzen saßen, französischen Wein tranken und auf kleine Gläser mit Kaviar schauten, den wir nicht zu essen beabsichtigten.
Ich erinnerte mich, dass wir uns stritten und uns in London anschließend verzweifelt liebten, in einer Wohnung nahe der amerikanischen Botschaft. Vielleicht hatte Dorothy Recht. Vielleicht lebte ich manchmal zu sehr in meinen Gedanken und war nicht so offen, wie ich es gern gewesen wäre. Aber was Benton betraf, hatte sie Unrecht. Er war kein Schwächling gewesen, und im Bett hatten wir uns nie gelangweilt.
»Dr. Scarpetta?«
Eine Stimme erregte meine Aufmerksamkeit. »Wir sind da«, sagte der Fahrer und beäugte mich im Rückspiegel.
Ich rieb mir das Gesicht mit den Händen und unterdrückte ein Gähnen. Der Wind wehte hier stärker, die Temperatur war niedriger. Am Air-France-Schalter checkte ich uns ein, weil ich Marino nicht zutraute, mit Ticket und Pass zurechtzukommen oder das richtige Gate ohne Peinlichkeiten zu finden. Flug 2 sollte in eineinhalb Stunden starten, und als ich mich in die Concorde Lounge setzte, fühlte ich mich erneut erschöpft.
Meine Augen brannten. Marino kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
»Schau doch nur«, flüsterte er zu laut. »Die Bar ist gefüllt. Der Kerl da
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