Blinder Passagier
heraus. Auf dem Boulevard des Capucines wurden ehemals kleine Läden zu Designer-Boutiquen für die ganz Reichen umgestaltet, und das erinnerte mich daran, dass ich vergessen hatte, mich nach dem Wechselkurs zu erkundigen.
»Und deswegen habe ich auch schon wieder Hunger«, fuhr Marino mit seiner wissenschaftlichen Erklärung fort. »Der Metabolismus muss aufholen, wenn man so schnell fliegt. Wozu er unglaublich viele Kalorien verbrennt. Ich habe überhaupt nichts gemerkt, als wir durch den Zoll gegangen sind. Hab mich weder betrunken noch vollgestopft gefühlt, nichts.«
Es gab kaum Weihnachtsschmuck, auch nicht im Zentrum. Die Pariser hatten bescheidene Lichterketten und immergrüne Girlanden vor ihren Bistros und Geschäften aufgehängt, und bislang hatte ich noch nicht einen Weihnachtsmann entdeckt außer dem großen aufblasbaren im Flughafen, der seine Arme schwenkte, als würde er Gymnastik machen. In der marmornen Lobby des Grand Hotel, in dem wir übernachten sollten, wurde der Jahreszeit mit Weihnachtssternen und einem Weihnachtsbaum Rechnung getragen.
»Heilige Scheiße«, sagte Marino und blickte zu den Säulen und dem riesigen Kronleuchter. »Was meinst du, wie viel kostet ein Zimmer in dieser Bude?«
Das musikalische Läuten der Telefone nahm keine Ende, die Schlange an der Rezeption war deprimierend lang. Überall stand Gepäck herum, und mir wurde mit wachsender Verzagtheit klar, dass eine Reisegruppe eincheckte.
»Weißt du was, Doc?«, sagte Marino. »Ich werde mir hier nicht mal ein Bier leisten können.«
»Falls du es jemals zur Bar schaffst«, sagte ich. »Sieht aus, als würden wir hier die ganze Nacht stehen.«
Kaum hatte ich das ausgesprochen, als mich jemand am Arm berührte, und ich sah einen lächelnden Mann in einem dunklen Anzug neben mir stehen.
»Madame Scarpetta, Monsieur Marino?« Er winkte uns aus der Schlange. »Tut mir Leid, dass ich Sie erst jetzt erkannt habe. Ich heiße Ivan. Sie wurden bereits eingecheckt. Ich werde Sie in Ihre Zimmer bringen.«
Ich wusste nicht, was für einen Akzent er sprach, aber er war definitiv kein Franzose. Er führte uns durch die Lobby zu den auf Hochglanz polierten Messingtüren der Aufzüge, wo er auf den Knopf für den dritten Stock drückte.
»Woher sind Sie?«, fragte ich.
»Von überall, aber ich bin seit vielen Jahren in Paris.«
Wir folgten ihm durch einen langen Flur zu Zimmern, die nebeneinander lagen, aber nicht miteinander verbunden waren. Es erschreckte und nervte mich, dass unser Gepäck bereits hier war.
»Wenn Sie etwas brauchen, wenden Sie sich bitte an mich«, sagte Ivan. »Wahrscheinlich ist es am besten, wenn Sie unten im Cafe essen. Ein Tisch ist für Sie reserviert, aber es gibt selbstverständlich auch Zimmerservice.«
Er wandte sich rasch um, bevor ich ihm ein Trinkgeld geben konnte. Marino und ich standen auf den Schwellen zu unseren Zimmern und starrten hinein.
»Das ist mir alles nicht geheuer«, sagte er. »Ich mag so Geheimscheiße nicht. Woher sollen wir wissen, wer er ist? Ich wette, er arbeitet nicht mal für dieses Hotel.«
»Marino, lass uns nicht auf dem Flur darüber reden«, sagte ich.
Mir schwante, dass ich gewalttätig werden würde, wenn ich nicht ein paar Augenblicke für mich allein hätte. »Wann willst du essen?« »Ich rufe dich an«, sagte ich. »Also, ich habe Hunger.«
»Warum gehst du dann nicht ins Cafe, Marino?« Ich hoffte inständig, dass er meinen Vorschlag annehmen würde. »Und ich esse später.«
»Nein, ich glaube, wir bleiben besser zusammen, Doc«, erwiderte er.
Ich betrat mein Zimmer und schloss die Tür. Zu meiner Überraschung war mein Koffer bereits ausgepackt, meine Wäsche lag ordentlich gefaltet in Schubladen. Hosen, Blusen und ein Kostüm hingen im Schrank, Toilettenartikel standen aufgereiht im Bad vor dem Spiegel. Augenblicklich klingelte das Telefon. Ich wusste zweifelsfrei, wer es war.
»Was?«, sagte ich.
»Sie sind an meine Sachen gegangen und haben alles weggeräumt!«, keifte Marino wie ein zu laut aufgedrehtes Radio. »Jetzt reicht's. Ich mag es nicht, wenn man an meine Sachen geht. Wer zum Teufel glauben die, dass sie sind? Ist das ein französischer Brauch oder was? Man wohnt in einem teuren Hotel, und sie wühlen in deinem Gepäck?«
»Nein, das ist kein französischer Brauch«, sagte ich.
»Dann muss es ein Interpol-Brauch sein.«
»Ich rufe dich später an.«
Eine Obstschale und eine Flasche Wein standen auf dem Tisch, und ich schälte eine
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