Blinder Passagier
spreche.« Der Akzent war amerikanisch.
»Wenn Sie ein Reporter sind -«
»Ich werde Ihnen eine Telefonnummer geben.«
»Ich werde Ihnen ein Versprechen geben«, sagte ich. »Sagen Sie mir, wer Sie sind, oder ich lege auf.«
»Ich gebe Ihnen jetzt eine Nummer«, sagte er und diktierte sie mir, bevor ich mich weigern konnte.
Ich erkannte die Vorwahlnummer von Frankreich.
»Es ist drei Uhr morgens in Frankreich«, sagte ich, als ob er das nicht wüsste.
»Es spielt keine Rolle, wie viel Uhr es ist. Wir haben Informationen von Ihnen erhalten und sie durch unsere Computer geschickt.«
»Nicht von mir.«
»Nein, nicht in dem Sinn, dass Sie sie in den Computer eingegeben haben, Dr. Scarpetta.« Seine Stimme war tief wie ein Bariton, weich wie poliertes Holz.
»Ich bin in Lyon«, sagte er. »Rufen Sie die Nummer an, die ich Ihnen gegeben habe, und hören Sie sich zumindest die Ansage an.«
»Was für einen Sinn soll das -«
»Bitte.«
Ich legte auf und versuchte es. Eine Frauenstimme mit einem starken französischen Akzent sagte, »Bonjour, Hello« und nannte in beiden Sprachen die Bürozeiten. Ich wählte die Durchwahl, die er mir gegeben hatte, und war wieder mit dem Mann verbunden.
»Bonjour, Hello? Und damit wollen Sie sich identifizieren?«, sagte ich. »Ich könnte genauso gut mit einem Restaurant verbunden sein.«
»Bitte faxen Sie mir ein Blatt mit Ihrem Briefkopf, dann sage ich Ihnen alles Weitere.«
Er gab mir die Nummer. Ich ließ ihn warten und ging in mein Arbeitszimmer. Ich faxte ihm einen Bogen meines Briefpapiers, während Lucy wieder vor dem Feuer saß, Ellbogen auf die Knie gestützt, Kinn in der Hand, teilnahmslos.
»Mein Name ist Jay Talley, ich bin der ATF-Verbindungsmann bei Interpol«, sagte er, als ich wieder am Telefon war. »Wir bitten Sie, sofort zu kommen. Sie und Captain Marino.«
»Ich verstehe nicht«, sagte ich. »Sie haben meine Berichte. Im Augenblick gibt es nichts hinzuzufügen.«
»Wir würden Sie nicht darum bitten, wenn es nicht wichtig wäre.«
»Marino hat keinen Pass«, sagte ich.
»Er war vor drei Jahren auf den Bahamas.«
Ich hatte vergessen, dass Marino mit einer seiner unsäglichen Frauenbekanntschaften drei Tage lang eine Kreuzfahrt gemacht hatte. Ihre Beziehung hatte kaum länger gedauert.
»Es ist mir egal, wie wichtig es ist«, sagte ich. »Ich werde mich auf keinen Fall in ein Flugzeug setzen und nach Frankreich fliegen, wenn ich nicht weiß, was -«
»Einen Augenblick«, unterbrach er mich, höflich aber mit Autorität. »Senator Lord? Sir, sind Sie dran?«
»Ich bin hier.«
»Frank?«, sagte ich erstaunt. »Wo bist du? Bist du in Frankreich?«
Ich fragte mich, wie lange er schon zuhörte.
»Hör mal zu, Kay. Es ist wichtig«, sagte Senator Lord mit einer Stimme, die mich daran erinnerte, wer er war. »Brich auf und zwar jetzt gleich. Wir brauchen deine Hilfe.«
Dann sprach wieder Talley. »Sie und Marino müssen um halb fünf Uhr morgens am Millionaire-Privatterminal sein. In weniger als sechs Stunden.«
»Ich kann jetzt nicht weg.« Lucy stand in der Tür.
»Bitte seien Sie pünktlich. Ihr Flug in New York startet um acht Uhr dreißig«, sagte Talley.
Ich dachte, Senator Lord hätte aufgelegt, aber plötzlich hörte ich seine Stimme wieder.
»Danke, Agent Talley«, sagte er. »Ich werde jetzt mit ihr sprechen.«
Ich hörte, wie Talley auflegte.
»Ich möchte wissen, wie es dir geht, Kay«, sagte mein Freund. »Keine Ahnung.«
»Es ist mir wichtig«, sagte er. »Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht. Vertrau mir. Und jetzt sag mir, wie du dich fühlst.«
»Abgesehen davon, dass ich nach Frankreich zitiert werde und vermutlich demnächst gefeuert werde und -« Ich wollte erzählen, was mit Lucy geschehen war, aber sie stand noch immer da.
»Alles wird in Ordnung kommen«, sagte Senator Lord.
»Was immer alles ist«, erwiderte ich.
»Vertrau mir.«
Das hatte ich immer getan.
»Man wird dich bitten, Dinge zu tun, die dir widerstreben.
Dinge, die dir Angst machen werden.«
»So schnell jagt man mir keine Angst ein, Frank«, sagte ich.
31
Marino holte mich um viertel vor vier ab. Es war eine herzlose Morgenstunde, die mich an den schlaflosen Schichtdienst in Krankenhäusern erinnerte, an die frühen Tage meiner Laufbahn, als ich zu Fällen gerufen wurde, zu denen niemand anders wollte.
»Jetzt weißt du, wie es ist, Nachtschicht zu machen«, sagte Marino, als wir über eisige Straßen fuhren.
»Das weiß ich
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