Blinder Passagier
wieder auf, »und Jo geht als Erste rein. Es sind sechs da, statt der angekündigten drei. Uns ist sofort klar, dass sie Bescheid wissen, und ich weiß, was sie vorhaben. Einer packt Jo und hält ihr die Knarre an den Kopf, damit sie ihm erzählt, wo auf Fisher Island wir diesen Hinterhalt planen.«
Sie holte tief Luft und schwieg, als könnte sie nicht weitersprechen. Sie nippte wieder an dem Bourbon.
»Himmel, was ist das für ein Zeug? Allein von dem Geruch werde ich betrunken.«
»Fünfundvierzig Prozent. Normalerweise bin ich nicht für starke Sachen, aber es wäre nicht schlecht, wenn du bald zur Ruhe kommst. Bleib eine Weile bei mir.«
»ATF und DEA haben alles richtig gemacht«, sagte sie.
»Solche Dinge passieren, Lucy.«
»Ich musste unheimlich schnell denken. Die einzige Möglichkeit, die mir einfiel, war so zu tun, als wäre es mir egal, ob sie ihr das Gehirn rausblasen oder nicht. Sie halten ihr die Knarre an den Kopf, und ich tu so, als wäre ich stocksauer auf sie. Damit hatten sie überhaupt nicht gerechnet.«
Sie trank einen weiteren Schluck Bourbon. Man merkte ihn ihr bereits an.
»Ich geh also zu diesem marokkanischen Arschloch und sag ihm ins Gesicht, dass er sie abknallen soll, dass sie eine blöde Kuh ist und ich sie satt habe, weil sie mir dauernd im Weg ist.
Aber wenn er sie jetzt umbringt, dann reitet er sich und alle anderen nur in die Scheiße.«
Sie starrte noch immer ins Feuer, ohne zu blinzeln, als würde sie die Szene vor ihrem geistigen Auge sehen.
»Ich sage: Glaubst du etwa, ich hätte nicht gewusst, dass ihr uns nur benutzt und uns dann aus dem Weg schaffen wollt? Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Weißt du was? Ich hab vergessen, dir zu sagen, dass Mr. Tortora uns erwartet - und ich schaue auf meine Uhr - und zwar genau in einer Stunde und sechzehn Minuten. Ich dachte, es wäre nett, ihm ein bisschen Gesellschaft zu leisten, bevor ihr Arschlöcher auftaucht und ihn umbringt und alle seine Waffen, sein Geld und sein Kokain nehmt. Was wird wohl passieren, wenn wir nicht kommen? Meinst du etwa, er wird nicht nervös werden?«
Ich konnte den Blick nicht von Lucy wenden. Von allen Seiten stürmten Bilder auf mich ein. Ich sah vor mir, wie sie diese gefährliche Rolle spielte, und ich sah sie im Kampfanzug vor mir, wenn es irgendwo brannte, und wie sie einen Helikopter flog und Computer programmierte. Ich sah sie als das dickköpfige unzähmbare Kind vor mir, das ich praktisch aufgezogen hatte.
Marino hatte Recht. Lucy glaubte, zu viel beweisen zu müssen.
Ihr erster Impuls war es immer gewesen zu kämpfen.
»Ich dachte nicht, dass sie mir wirklich glauben würden«, sagte sie. »Deswegen wandte ich mich an Jo. Den Blick in ihren Augen werde ich nie vergessen, das Pistolenrohr direkt an ihrer Schläfe. Ihre Augen.« Sie hielt inne. »Sie blicken ganz ruhig, während sie mich ansieht, weil sie« Ihre Stimme zitterte.
»Weil sie möchte, dass ich weiß, dass sie mich liebt.« Lucy schluchzte. »Sie liebt mich. Sie will, dass ich es weiß, weil sie glaubt« Ihre Stimme überschlug sich. »Sie glaubt, dass wir sterben werden. Und ich fange an, sie anzuschreien. Ich nenne sie eine verdammte blöde Kuh und schlage sie so ins Gesicht, dass meine Hand taub wird.
Und sie sieht mich an, als gäbe es nur mich, Blut läuft aus ihrer Nase und aus ihrem Mundwinkel und tropft rot von ihrem Kinn.
Sie hat nicht mal geweint. Sie spielt nicht mehr mit, hat ihre Rolle vergessen, alles, was sie gelernt hat, und sie weiß nicht mehr, was sie tun soll. Ich packe sie, werfe sie auf den Boden und setze mich auf sie. Ich fluche und schlage sie und schreie sie an.«
Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen und starrte geradeaus.
»Und das Schreckliche daran ist, dass ein Teil davon wirklich ist, Tante Kay. Ich bin wütend auf sie, weil sie mich im Stich gelassen, weil sie einfach aufgegeben hat. Sie gab auf und war bereit zu sterben, verdammt noch mal!«
»Wie Benton«, sagte ich leise.
Lucy wischte sich das Gesicht an ihrem T-Shirt ab. Sie schien mich nicht gehört zu haben.
»Ich habe Leute, die aufgeben und mich im Stich lassen, ein für alle Mal satt«, sagte sie mit gebrochener Stimme. »Ich brauche sie, und sie geben einfach auf!«
»Benton hat nicht aufgegeben, Lucy.«
»Ich schreie Jo weiter an und schlage sie und sage, dass ich sie umbringen werde, und zerre an ihrem Haar. Da wacht sie auf, wird vielleicht sogar sauer auf mich, und sie fängt an zu kämpfen. Sie nennt
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